Ziemlich genau in der Mitte des Buchs Du côté de chez Swann befindet sich der Roman Un amour de Swann (Eine Liebe Swanns), und ich gebe zu, dass ich bei der Vorstellung des ersten Teils von Du côté de chez Swann ein wenig geschummelt habe: Weil in meiner Ausgabe Un amour de Swann bereits im ersten Band von Du côté de chez Swann einsetzt, habe ich die Lektüre dieses ersten Bandes dort abgebrochen, wo Un amour de Swann anfängt und dafür jetzt ein bisschen mehr gelesen, nämlich den Schluss des ersten und den ganzen zweiten Band.
Einen „Roman“ habe ich Un amour de Swann gerade genannt und tatsächlich wird dieser Teil von À la recherche du temps perdu auch oft alleinstehend verkauft – im Deutschen wie im Französischen. Dass das funktioniert, beweist die Qualität des Textes. Man kann ihn wirklich alleine lesen und man wird sehr viel über die Welt erfahren, in der sich die ganze Suche abspielt. Und man kann sich auch mit diesem Roman begnügen, denn die Geschichte ist in sich geschlossen. Das drückt sich schon darin aus, dass sie – als einziger Teil der ganzen Suche – in der dritten Person erzählt wird. (Allerdings finden wir ein paar Mal kurze Einschübe, in denen sich dann doch der Ich-Erzähler der Suche zu Wort meldet, zum Beispiel, wenn es darum geht, die Verbindung Swanns mit dem Großvater des Ich-Erzählers herzustellen.)
Un amour de Swann erzählt von der Liebe des Dandys Swann zur cocotte Odette de Grécy – davon, wie er diese Frau kennen lernt, sie zunächst für nichts Besonderes hält, sich später in sie verliebt und zum Schluss diese Liebe wieder verliert. Was hier so einfach klingt, wird von Proust mit allen psychologischen Details (vor allem Swann betreffend) geschildert. Typisch für diesen Mann, der sich sehr rasch und tief von der Musik oder von Gemälden beeindrucken lässt, der auch theoretische Schriften über diese Themen verfasst, ist es, dass er sich erst (dann aber plötzlich und heftig) in Odette verliebt, als er sie einen Moment im richtigen Licht von der Seite ansieht und sie ihn an eine Frauenfigur in einem Gemälde von Sandro Botticelli erinnert. Es folgt die Geschichte ihrer Beziehung, die vor allem eine Geschichte ist davon, wie er sie mit seiner Eifersucht und seinem Zwang zur völligen Kontrolle über sie quält – eine Eifersucht, die im Übrigen nicht ganz unberechtigt ist, stellt sich doch im Lauf des Romans heraus, dass Odette – auch wenn sie Swann gegenüber alles abstreitet – sich mit einigen Männern (auch welchen, die Swann persönlich kennt) eingelassen hat und sich auch von ihnen aushalten lässt. Selbst Frauen scheint sie nicht zu verschmähen, was Swann fast noch größere Qualen verursacht, als ihre Liebe zu Männern. (Es ist ja interessant zu sehen, wie in Du côté de chez Swann die weibliche Homosexualität in hohem Ausmaß perhorresziert wird, während die männliche noch kaum eine Rolle spielt und allenfalls im Gespräch gestreift wird.) Als sich Odette der Kontrolle Swanns immer mehr entzieht, ohne ihn auf Abendgesellschaften geht, ja später sogar längere Reisen ohne ihn unternimmt, beruhigt sich Swann seltsamerweise. Das Abflauen seiner Eifersucht bedeutet aber gleichzeitig das Ende seiner Liebe zu Odette. Hier endet der Roman Un amour de Swann.
Und hier ist es auch, wo ich nun sagen muss, dass, wer nur diesen Roman liest, nicht die ganze Kunst Prousts zu schmecken bekommt. Schon im noch dem Roman Du côté de chez Swann folgenden kurzen Teil, wo wieder der Ich-Erzähler erzählt, allerdings keine eigentliche Handlung erzählt, keine eigentliche Reihenfolge der Ereignisse einhält – schon hier also wird uns geschildert, wie der Ich-Erzähler offenbar als relativ kleines Kind (denn er ist noch mit einem Kindermädchen unterwegs, der alten Françoise, die wir bereits als Dienstbotin einer alten Großtante kennen gelernt haben, und derentwegen er sich ungeheuer geniert) – wie der Ich-Erzähler also, verliebt in Gilberte, die Tochter Swanns(!), sich als ein ebenso eifersüchtiger Kontroll-Freak entpuppt, wie es Papa Swann war. Und wir erfahren, dass Gilbertes Mutter, Mme Swann, niemand anderes ist als die frühere cocotte Odette de Crécy. Anders also, als der Roman Un amour de Swann suggeriert, hat Swann seine Odette schließlich doch geheiratet und mit ihr sogar ein Kind gezeugt. Aus dem ersten Teil von Du côté de chez Swann, dem also, was uns vor Un amour de Swann erzählt worden ist, wissen wir aber auch, dass sich das Ehepaar offenbar recht rasch wieder auseinander gelebt haben muss. Vor diesem psychologischen Rätsel lässt uns Proust unkommentiert stehen. (Ebenso wenig kommentiert oder erklärt wird der Umstand, dass der Erzähler von Un amour de Swann zwar in der dritten Person erzählt, aber offenbar doch identisch ist mit dem Ich-Erzähler des Rests – und weshalb dieser seltsame Erzähler so genau Bescheid weiß über die Gedanken und Gefühle eines Swann oder einer Odette zu einer Zeit, als er selber noch gar nicht auf der Welt war.)
Rätsel über Rätsel …
Ebenfalls unkommentiert, aber wirklich komisch, sind die Schilderungen, die Proust liefert von den Abendgesellschaften im (groß-)bürgerlichen Milieu, bei denen Swann seine Odette kennen lernt. Der Egoismus, die Voreingenommenheit und die Eingebildetheit vor allem der Gastgeberin kennen fast keine Grenzen. Das ist nun aber keineswegs auf das bürgerliche Milieu beschränkt; Proust schildert auch Soiréen beim (Hoch-)Adel, wo dieselben Gefühle herrschen. (Proust kann beide Milieus schildern, weil Swann, eigentlich bürgerlich, aber einziger Sohn einer reichen Familie, in beiden verkehren kann. Und während die Bürgerlichen nicht wissen oder nicht wahrhaben wollen, dass Swann auch mit dem Hochadel verkehrt, scheint es diesem – egal zu sein. Auch hier finden wir ein wichtiges Thema wieder, das (allerdings erst später) den Ich-Erzähler quälen sollte, als auch er versucht, Eintritt in die Gesellschaften des Adels zu finden, und es ihm zum Schluss auch gelingt – nur um festzustellen, dass es im Grunde genommen der Mühe nicht wert war.
Fazit: Wir können Un amour de Swann alleine lesen, ja nur diesen Teil der Suche lesen. Ich empfehle aber wegen der doch intensiven Einbettung in den Rest von À la recherche du temps perdu, dies nicht zu tun.