Das Rad an meines Vaters Mühle brauste und rauschte schon wieder recht lustig, der Schnee tröpfelte emsig vom Dache, die Sperlinge zwitscherten und tummelten sich dazwischen; ich saß auf der Türschwelle und wischte mir den Schlaf aus den Augen; mir war so recht wohl in dem warmen Sonnenscheine. Da trat der Vater aus dem Hause; er hatte schon seit Tagesanbruch in der Mühle rumort und die Schlafmütze schief auf dem Kopfe, der sagte zu mir: »Du Taugenichts! da sonnst du dich schon wieder und dehnst und reckst dir die Knochen müde und läßt mich alle Arbeit allein tun. Ich kann dich hier nicht länger füttern. Der Frühling ist vor der Tür, geh auch einmal hinaus in die Welt und erwirb dir selber dein Brot.«
So fängt Eichendorffs Taugenichts an und weist damit den Lesenden bereits ganz am Anfang zwei Fährten, auf die die Novelle ihn locken will. Der Ton ist gutmütig und märchenhaft gehalten, der Schauplatz ist ein Locus communis der Romantik par excellence: die Mühle. Eichendorff lockert die epische Form der Novelle im Verlauf der Erzählung immer wieder durch lyrische Elemente auf, was ebenfalls als ‚typisch romantisch‘ gilt.Und der Vater, der seinen Nichtsnutz von Sohn vor die Tür stellt, ist ein für das romantische Märchen typischer Topos. Wenn wir die Geschichte weiter lesen, werden wir viele weitere solche Topoi finden: die (zunächst) unerfüllte Liebe des Protagonisten; dunkle Wälder, in denen sich der Protagonist vor Räubern versteckt; eine Entführung; und last but not least die Sehnsucht des Protagonisten nach Italien und dort wiederum vor allem nach Rom. So ist es kein Wunder, wenn die schulmäßige Interpretation (wie ich sie noch selber erlebt habe) Aus dem Leben eines Taugenichts als Muster der Romantik führt, als deren im Grunde genommen bereits epigonal gewordene Vollendung.
Doch Eichendorff ist in dieser Novelle besser als sein Ruf. Und wenn die Literaturwissenschaft der DDR ihm in den 1960ern im renommierten Aufbau-Verlag eine Werkauswahl in drei Bänden spendiert hat, deutet das meiner Meinung nach darauf hin, dass sie etwas anderes in Eichendorff zumindest doch spürte als den katholischen und konservativen Freiherrn (der er ja war) und den Spätromantiker, der so spät dran war, dass er schon beinahe als Epigone gehandelt werden müsste.
Natürlich kann die Geschichte zu ihrem Wortwert gelesen werden und sie ist auch dann noch gut. Die musikalische und märchenhafte Sprache des Ich-Erzählers ist so oder so ein Genuss, und die Storyline hat genügend unerwartete Wendungen in sich, dass sie spannend ist, sofern man gewillt ist, die unwahrscheinlichsten Zufälle in Kauf zu nehmen. Aber Aus dem Leben eines Taugenichts ist auch eine literarische Abrechnung mit der ganzen Goethe-Zeit, die soeben (die Novelle wurde 1826 veröffentlicht) anfing, sich selber historisch und klassisch zu werden, und die gleichzeitig begann, in den Abgrund der Trivial-, ja der Schundliteratur abzugleiten.
Schon der märchenhafte Beginn mit dem verstoßenen Sohn führt auf eine falsche Fährte. Der Vater gibt dem Sohn noch ein wenig Kleingeld auf den Weg, dass der aber schon bei der ersten Fahrt auf einer Kutsche verliert. Danach spielt er keine Rolle mehr und erscheint nur noch in zwei oder drei kurzen Erinnerungsblitzen des Taugenichts. Der Sohn aber will nun ohne Geld und zu Fuß reisen – zunächst nach Wien, später dann von dort nach Italien, nach Rom. Selbst Seume (den Eichendorff hier wahrscheinlich persifliert und der ebenfalls Route über Wien für den Hinweg nach Syrakus wählte) hatte mehr Geld dabei als unser Held. Und mehr noch als Seume (dessen Spaziergang über weite Strecken eine Kutschenfahrt war) wird der Taugenichts die meiste Zeit ebenfalls nicht zu Fuß unterwegs sein, sondern in einer Kutsche fahrend. Des Taugenichts einzige Talente sind sein Geigenspiel und sein Gesang, was einen Professor, dem er unterwegs begegnet, dazu verführt ihn als besser denn sämtliche Wunderhörner zu erklären. Diese Spitze richtet sich nicht nur gegen Arnim und Brentano, sondern auch gegen die aus der Romantik sich entwickelnde Sprach- und Literaturwissenschaft – denken wir an die Brüder Grimm oder das spätere Schaffen der frühromantischen Brüder Schlegel. Von der Malerei hingegen versteht der Taugenichts offenbar – nichts. Nur so kann es sein, dass ihm bei den beiden Herren, die ihn nachts im Wald zusammenlesen – denn es waren zwei harmlose Reiter und keine Räuber, die ihn auf einen Baum jagten – und die sich Leonardo und Guido nennen, nicht sämtliche Alarmglocken läuten, und dies nicht einmal, als die beiden vorgeben, Maler zu sein. Später, in Rom, als man ihm gegenüber da Vinci und Reni erwähnt, wird er sich damit brüsten, die beiden persönlich kennen gelernt zu haben.
Gehen wir aber nochmals zurück zum ersten Teil der Reise unseres Taugenichts. In Wien angekommen, bringt sein Glück den Taugenichts in ein gräfliches Schloss, wo er sich in die junge Gräfin verliebt. Sein Glück wiederum macht, dass er daselbst vom Gärtnerjungen zum Einnehmer befördert wird, was ihm insofern zupass kommt, als er in dieser Aufgabe wenig zu tun hat und sich darauf konzentrieren kann, seiner Geliebten die Cour zu machen. Als er diese aber dann am Arm eines hübschen Offiziers auf dem Balkon des Schlosses erscheinen sieht, gibt er alle Hoffnung auf sie auf, lässt alles stehen und liegen und reist nun endgültig gen Italien. Auf diesem Teil der Reise ist es auch, wo ihm die beiden Herren zu Pferd begegnen, die sich dann am Ende als ein junger Edelmann und seine Geliebte entpuppen. Er musste sie entführen, um eine von den Eltern der jungen Frau geplante Heirat mit einem anderen zu verhindern. Aber auch dieser Handlungsfaden verliert sich wider Erwarten ganz harmlos im Sande, weil sich der andere Bewerber, kaum ist die potenzielle Braut verschwunden, ebenfalls in Luft auflöst. Die ganze Novelle ist eine der Täuschungen, eine der hoch aufgebauten, aber nicht wirklich aufgelösten Erwartungen. Wir sehen: Eichendorff kannte und verwendete schon viele Techniken, die wir heute als ‚postmodern‘ ansehen.
Zum Schluss noch zwei Dinge:
Da ist einmal Goethe. Zum Zeitpunkt des Erscheinens dieser Novelle ist er sich selber und der Welt schon längst historisch geworden. Eichendorff aber setzt nun im Taugenichts zu einer sehr subtilen und ironischen Persiflage an. Da ist zunächst eine Diskussion über den Begriff des Genies, die ausgerechnet drei Prager Studenten ausfechten, die als Straßenmusikanten unterwegs sind. Und da ist vor allem die Reise des Taugenichts als solche. Wenn Goethe auf seiner großen Italien-Reise schaute, verarbeitete, schaute und wieder verarbeitete, so sieht der Tauge-Nichts genau das: nichts. Er verschläft den größten Teil der Reise, und auch in Rom selber ist er mehr Träumer denn Seher. Einen Brunnen, den er sich merken will, um zurück zum Haus zu finden, in dem er aufgenommen wurde, findet er am Tag nicht mehr – erst in der folgenden Nacht wird er ihm plötzlich wieder erscheinen. Wie anders Goethe … Dennoch will ich nicht entscheiden, wer den ‚schöneren‘ Rom-Aufenthalt hatte.
Das andere sind der Vater des Taugenichts (ja, ich muss noch einmal auf ihn zurück kommen) und der Portier des Wiener Schlosses, in dem der Taugenichts als Gärtnerjunge und dann als Einnehmer arbeitete und der es war, der ihm empfahl, an Stelle seiner Blumen im Garten des Einnehmer-Hauses nützliches Gemüse anzupflanzen. Der Portier entpuppt sich am Ende der Novelle als der Onkel jener jungen Frau, die der Taugenichts für eine Gräfin hielt, die aber in Tat und Wahrheit eine Waise war, die Tochter seines Bruders, die der Portier nach dessen Tod aufnahm und die ihrerseits von der gräflichen Herrschaft in ihrem Haushalt als Gesellschafterin der in etwa gleichaltrigen wirklichen jungen Gräfin aufgezogen wurde. In diesen beiden aufs Nützliche beschränkten Figuren haben wir nicht nur die Folie zur ‚nutzlosen‘ romantischen Kunst vor uns, Eichendorff sah auch hellsichtig genug voraus, dass die Zukunft nicht beim ‚schönen‘ aber nutzlosen Adel liegen würde, sondern beim aufs Nützliche sich konzentrierenden Bürgertum. Der bürgerliche Kapitalismus begann sich nun auch in Deutschland bemerkbar zu machen, nachdem er in England bereits Fuß gefasst hatte. Dass er dieses utilitaristische bürgerlich Denken aber gleichzeitig in die Vaterfiguren (bzw. die Vaterersatzfigur) des jungen Paares verbannt hat, zeigt noch einmal die Ironie des Verfassers, der in dieser Philosophie auch nur Reste von gestern vorfand. Noch einmal, in einem letzten Aufbäumen des Adels, ist er es, der dem jungen bürgerlichen Paar eine Heimat und eine sorglose Zukunft bietet, indem der junge Graf, dessen Entführung unser Taugenichts in seiner Simplizität gedeckt hatte ohne es zu ahnen, dem bürgerlichen Paar ein Schlösschen in der Nähe des seinen schenkt. Natürlich ist dieses Schlösschen mit einem Garten und Weinbergen versehen – nichts hat der Taugenichts auf seiner Reise so gern getrunken wie den vergorenen Traubensaft aller Herren Länder. Aber selbst jetzt, wo er in eine (groß-)bürgerliche Wohlanständigkeit übergehen könnte, spricht der Taugenichts bereits wieder davon, dass er mit seiner Gattin, dem Portier und den drei Prager Studenten noch einmal nach Rom reisen wolle. Seine (jetzt noch) Braut aber lächelte still und sah mich recht vergnügt und freundlich an […]. Ist das Zustimmung oder denkt sie insgeheim: „Kommt Zeit, kommt Rat. Wir werden ihm die Flausen schon noch austreiben.“? Ich tendiere zu letzterem. So endet die Novelle gut bürgerlich. (Wenn aktuell bei Wikipedia am Ende der Inhaltsangabe steht: Dank einer Kette von geheimnisvollen und ganz unwahrscheinlichen Zufällen ist dem Sohn des Müllers die Flucht aus dem bürgerlichen Arbeitsleben und der Eintritt in die Welt des Adels gelungen. Insofern ist die Novelle ein typisches Beispiel einer weltfremden Romantik., so stimmen im ersten Satz gerade mal die ersten 9 (neun!) Wörter. Der Rest ist völliger Quatsch, und auch die Ironie, die Eichendorff in diese Kette von unmöglichen Zufällen gelegt hat, ist Wikipedia völlig entgangen.)
Fazit: Diese Novelle ist in ihrer subtilen Doppel-, ja Mehrbödigkeit, bedeutend besser als ihr Ruf.