Paul Verlaine hat den vorliegenden Gedichtband veröffentlicht, als er 22 Jahre alt war. Es handelt sich hier um seine lyrischen Erstlinge, und manchmal merkt man das auch. Die Eierschalen nicht nur seiner schulischen Bildung kleben schon noch ein bisschen an ihnen. Andererseits will Verlaine mit dem Wort saturnien im Titel auch zum Ausdruck bringen, dass mit diesem Buch ein neues lyrisches Zeitalter beginnen sollte, das Goldene Zeitalter der Poesie sozusagen. Aus heutiger Sicht zeigt es sich, dass Verlaine damit nicht ganz Unrecht hatte – er wird, zusammen mit dem etwas älteren Baudelaire und den beiden jüngeren Mallarmé und Rimbaud, tatsächlich an den Beginn der modernen Lyrik gestellt. Was aus heutiger Sicht ebenfalls auffällt, ist der Umstand, dass Verlaine sich schon in seiner ersten Veröffentlichung in vielem so zeigt, wie er sein Leben lang bleiben würde. Er entwickelt sich stilistisch und inhaltlich zwar noch weiter, aber nicht in dem Ausmaß, dass wir seinen Erstling bei Seite legen und uns anderen, späteren Werken widmen müssten. Wie man so schön sagt, ist hier die Klaue des Löwen schon sehr spürbar.
Mit Baudelaire haben wir auch schon einen der beiden wichtigsten in den Poèmes saturniens feststellbaren Vorbilder Verlaines genannt. Nicht nur des jungen Verlaine, nebenbei gesagt: Baudelaire wird sein ganzes Werk hindurch präsent bleiben. Auch später wird es, wie hier, so sein, dass Verlaine Baudelaires Themen, z.B. seine „Melancholie“ übernimmt (in den Poèmes saturniens nennt Verlaine ein ganzes Kapitel mit acht Gedichten Melancholia), im Beispiel dieser Melancholie das Ganze aber zugleich von der Härte, ja Brutalität Baudelaires befreit und so von einem punktuell und nachgerade rauschhaft auftretenden Gefühl zu einer (schon fast sanften) Grunddisposition seiner Lyrik macht – und nicht nur seiner Lyrik, sondern auch der conditio humana. Über Baudelaire hat Verlaine auch Edgar Allan Poe kennen gelernt, und auch der US-Amerikaner spielt dementsprechend eine Rolle als Stichwortgeber in den Poèmes saturniens. Über Baudelaire schrieb er auch in etwa zur gleichen Zeit einen Aufsatz, der meiner Ausgabe begegeben ist. Ebefalls beigegeben ist eine viel spätere Kritik dieses seines Erstlings durch Verlaine selber.
Baudelaire und Poe sind sozusagen der in die literaturgeschichtliche Zukunft gewandte Teil der von Verlaine in den Poèmes saturniens verarbeiteten Einflüsse. Es gibt daneben aber auch die aus der Vergangenheit geschöpften, die trotz Verlaine Vergangenheit geblieben sind. Allen voran der eine, an der zu jener Zeit niemand vorbei kam: der Romantiker Victor Hugo. Hugo ist heute nur noch für seine Romane bekannt; den Lyriker liest, zumindest außerhalb Frankreichs, wohl niemand mehr. Wenn wir von der hier ein eigenes Kapitel bildenden Ballade (im deutschen Sinn) La mort de Philippe II [Der Tod Philipps II.], die ebenso stark historisiert wie Hugo selber, auf Hugos Lyrik schließen dürfen, ist das auch zu Recht so. Die Erzählung, wie der spanische König Philipp II. seinem Beichtvater alle seine Sünden erzählt und dieser ihn jedes Mal dafür lobt, dass er mit ganzer Härte gegen jede Art Häretiker vorgegangen ist, ist im Ganzen vorhersehbar und „die Moral der Geschicht’“ billig. Allerdings müssen wir auch hier Verlaine für seine Versschmiedekunst loben. (Wie er überhaupt, bei aller in die literarische Zukunft gerichteten Thematik seiner Gedichte – hierin wieder wie Baudelaire – sich in hohem Maß der überlieferten Versformen bedient: Sonett, Madrigal, etc.) Neben Victor Hugo müsste vielleicht noch der außerhalb Frankreichs ebenfalls praktisch nicht mehr gelesene Leconte de Lisle genannt werden, dem Verlaine im Alter von 50 Jahren sogar als Prince des poètes – so etwas gibt es in Frankreich! – nachfolgen sollte. (Nach Verlaines Tod zwei Jahre später sollte ihm Mallarmé – ebenfalls für zwei Jahre – in diesem Ehrentitel folgen.)
Alles in allem würde ich Verlaine nicht ganz auf dieselbe Stufe stellen wie Baudelaire, Mallarmé oder Rimbaud, die die Lyrik wirklich auf neue Füße gestellt haben. Aber im Vergleich mit der französischen Romantik stellen seine Gedichte einen wichtigen Schritt hin zur Moderne dar. (Bei der Romantik ist vielleicht Gérard de Nerval auszunehmen; der war aber zum Ende des 19. Jahrhunderts nur wenigen bekannt – ob Verlaine zu diesen wenigen gehörte, wissen wir nicht.)
Gelesen habe ich die Gedichte in folgender Ausgabe:
Paul Verlaine: Poèmes saturniens. Introduction et notes de Martine Bercot. Paris: Librairie Générale française, 242020. (= Le Livre de Poche classique 3133) [Ja, die Franzosen schätzen auch ihre „alten“ Lyriker nach wie vor hoch und bringen sie selbst im 21. Jahrhundert noch in kostengünstigen und doch hervorragend editierten Taschenbuchausgaben auf den Markt.]