Aristoteles verfasste seine Rhetorik als Vorlesungsmanuskript noch in seiner Zeit als Mitglied der Akademie, des Kreises um Platon also. Er hat sie aber auch viel später, zur Zeit seines zweiten Athenaufenthaltes, offenbar immer noch verwendet; jedenfalls ist man heute ziemlich sicher, dass die Kapitel 23 und 24 des II. Buchs erst zu dieser Zeit hinzu gefügt wurden. Doch schon bei den noch an der Akademie entstandenen Teilen fällt auf, wie sich Aristoteles in vielem bereits gegen die Ansichten Platons zur Rhetorik wendet und vor allem den von seinem Lehrer hoch geschätzten Isokrates immer wieder kritisiert.
Inhaltlich schließt die Rhetorik ganz eindeutig an zwei früher entstandene Schriften an, kann also in gewissem Sinn als deren Fortsetzung gesehen werden. Da ist zum einen das Organon; vor allem auf die Topik bezieht sich Aristoteles des öfteren explizit. Zum andern – vor allem gegen Ende der Rhetorik – finden wir auch zunehmend Bezüge zur Poetik.
Das ergibt durchaus Sinn, befassen sich doch alle drei Schriften, die Topik, die Poetik und nun auch die Rhetorik, mit dem Problem des Wahrheitsgehaltes einer Aussage, oder zumindest der Wahrscheinlichkeit, mit der eine Aussage als wahr gelten kann. Dabei ist es so, dass Wahrscheinlichkeit und Plausibilität bei Aristoteles oft verschmelzen. Eine Wahrheit ist wahrscheinlich, wenn ich sie dem Gegenüber plausibel zu machen verstehe. Somit gelten die Regeln der Logik, wie sie das Organon aufstellt, nicht nur für die philosophisch-wissenschaftliche Wahrheitsfindung, sondern – auf Grund des auch dort schon aufzufindenden agonalen Charakters nicht nur des aristotelischen, sondern des griechischen Denkens und Wesens überhaupt – mutatis mutandis auch für andere Gebiete. Im Speziellen geht es nach Aristoteles auch in der Politik um eine Wahrheitsfindung – nämlich darum, welche Ereignisse die in der Zukunft am wahrscheinlichsten eintreffenden sind in Bezug auf die Polis, welche die am wahrscheinlichsten stattgefunden habenden sind in Bezug auf eine Tat in der Vergangenheit (einem Verbrechen also) oder welche die wahrscheinlichsten Charaktereigenschaften sind eines Menschen, über den ich gerade rede (die typische antike Lobrede also). Das sind die drei Hauptwirkungsgebiete der Rhetorik. Vor allem die ersten beiden, die politische Rede und die Gerichtsrede, werden von Aristoteles ausführlich behandelt. Das alles übersteigt die eigentliche Logik natürlich; aber schon in der Topik greift Aristoteles zurück auf den Begriff der Dialektik als einen der Kunst der Redeführung im Allgemeinen. Die Rhetorik wird nun dargestellt als die Kunst der persuasiven Redeführung – die Kunst des Überredens und Überzeugens. Das ist dann auch der Punkt, wo der Rückbezug auf die Poetik nötig wird, denn viele der Redefiguren, die Aristoteles nun vorstellt, sind Figuren (Tropen), die auch in der Dichtkunst geübt werden, wo eine andere Art von Wahrscheinlichkeit vorkommt: die wahrscheinlich machende Darstellung unwahrer oder unwahrscheinlicher Ereignisse. Und ähnlich wie in den Sophistischen Widerlegungen verfolgt die Rhetorik sowohl das Ziel, dem Schüler den rhetorischen Schluss (wie in meiner Ausgabe das Enthymem übersetzt wird) in der Rede des Gegenübers erkennen und beantworten zu lassen, wie selber solche rhetorischen Wahrscheinlichkeiten zu konstruieren. Dazu ist es auch nötig, Ausflüge in eine Art Charakterlehre zu machen, um erkennen zu können, welche Art von Enthymem beim spezifischen Gegenüber angewendet werden kann. Ethik und Psychologie haben also in der Rhetorik grosses Gewicht, während diese wiederum sehr stark in die politische Philosophie der Antike und in deren Rechtsphilosophie greift.
Summa summarum ein fürs Verständnis der antiken Philosophie auf so manchem Gebiet „unverzichtbarer“ Text, auch wenn ich nicht glaube, dass die darin gegebenen Rezepte in der Praxis erprobt wurden. (Jedenfalls zog es Aristoteles, als er selber in Athen angeklagt worden war, bekanntlich vor, einer Gerichtsverhandlung durch Flucht ins benachbarte Ausland zuvor zu kommen.)
Gelesen habe ich die Rhetorik in folgender Ausgabe:
Aristotels: Rhetorik. Übersetzt, mit einer Bibliographie, Erläuterungen und einem Nachwort von Franz G. Sievke. München: Wilhelm Fink Verlag, 1980. (= UTB 159 – das Buch stammt also noch aus einer Zeit, als die Reihe UTB nicht nur Einführungen in die richtige Komma-Setzung für Hausarbeiten im Programm hatte, sondern noch hochwertig editierte Primärtexte verschiedenster Wissensgebiete dort erschienen.)