A Study in Scarlet erschien 1887 als erster Roman mit Sherlock Holmes als ermittelndem Detektiv und John H. Watson MD als dessen Begleiter und Berichterstatter. Es war zugleich das erste Erscheinen von Holmes und Watson überhaupt. 1890 sollte als zweiter Roman The Sign of the Four veröffentlicht werden; das war dann auch zugleich das zweite Erschienen des Duos Holmes & Watson in der Literatur. Erst im Gefolge der ersten Romane sollten die Kurzgeschichten um die beiden zu erscheinen beginnen, unterbrochen 1902 vom Roman The Hound of the Baskervilles. Den vierten und letzten Roman mit Sherlock Holmes und Dr. Watson haben wir dann schließlich 1914/15 mit The Valley of Fear vor uns.
Bei A Study in Scarlet handelt es sich nicht ganz um die erste literarische Veröffentlichung Arthur Conan Doyles. Der 27-Jährige fühlte sich in seinem Beruf als Arzt und mit einer mehr schlecht als recht gehenden Praxis eher fehl am Platz – er sah sich von Anfang an als Schriftsteller. Trotzdem kleben noch so einige Eierschalen einer Erstveröffentlichung (vulgo: Anfängerfehler) an diesem Roman. Einige dieser Fehler teilt dier erste Sherlock Holmes-Krimi auch noch mit dem zweiten.
So haben wir schon hier einen langen (und langweiligen!) Schlussteil vor uns, in dem die ganze Vorgeschichte des Mordfalls, in dem Holmes ermittelt, aufgerollt wird. Doyle sündigt hier sogar noch mehr als in The Sign of the Four. Er lässt den endlich aufgefundenen Mörder die Vorgeschichte in der dritten Person erzählen. Tatsächlich handelt es sich bei dieser Erzählung um eine Art Roman im Roman, der in etwa gleich viel Raum einnimmt, wie der eigentliche Krimi. Es geht darin um eine tragisch endende Liebesgeschichte. Einerseits wohl, um etwas Exotik hineinzubringen (denn der Mord spielt sich in London ab), hat Doyle als Schauplatz dieses Romans den (noch ein bisschen wilden) Westen der USA gewählt, und so haben wir zu Beginn gleich eine sich unendlich hinziehende Steppe vor uns (von der Art, wie sie auch auf R. L. Stevenson bei seiner Eisenbahnfahrt quer durch die USA einen so immensen Eindruck gemacht hat), die einzig von Pawnees und Blackfeet bewohnt ist. (Die auch hin und wieder mal ein paar Weiße umbringen.) Andererseits spielt die eigentliche Handlung dieses Binnenromans dann bei den Mormonen – was wiederum eine Konstante bei Doyle sein wird: die Angst des Autors vor nach seltsamen Riten funktionierenden Organisationen, vulgo: Geheimgesellschaften. Denn Mormonen sind sowohl Täter wie Opfer.
Der Kriminalfall von A Study in Scarlet ist, vom Mormonen-Motiv abgesehen, plausibler arrangiert als der von The Sign of the Four. Aber wenn man den Roman heute noch liest, dann wird es wohl eher wegen seines Anfangs sein, wo Doyle den Ich-Erzähler Watson berichten lässt, wie er überhaupt Sherlock Holmes kennen gelernt hat. Dieser Anfang ist nicht übel gelungen in seiner Schilderung eines Exzentrikers und Außenseiters der Gesellschaft. (Während, was Watson von sich selber berichtet, einfach nur larmoyant ist. Wenn man diesen Teil liest, empfängt man den Eindruck, dass dieser ehemalige Militärarzt, nachdem er im Zweiten Anglo-Afghanischen Krieg durch einen Gewehrschuss schwer verletzt wurde und dann in der Rekonvaleszenz-Zeit durch ein Tropenfieber in der Genesung zurückgeworfen, kurz davor ist, zu sterben – etwas das selbst Holmes bei der ersten Begegnung der beiden auffällt. Außerdem klagt er darüber, dass seine kärgliche Soldatenrente kaum zum Leben reicht – er tut sich mit andern Worten einfach nur ungeheuer leid.)
Damit kommen wir zum vielleicht interessantesten Teil dieses Anfangs. Hier werden Holmes und Watson zum ersten Mal vorgestellt – und sie werden in gewissen Partien anders geschildert als den späteren Romanen und Erzählungen. Zu einem Teil (einem kleinen Teil) liegt dies natürlich auch daran, dass Doyle im Laufe der Zeit mehr und mehr Details zum Äußeren und Inneren der beiden beitragen wird. Es liegt aber auch daran, dass Doyle sich schon knappe drei Jahre nach dem Erscheinen von A Study in Scarlet, also in The Sign of the Four, den Teufel drum schert, was er genau im ersten Roman über die beiden erzählt hat. Natürlich sind die deduktiven Fähigkeiten Holmes’ (die er übrigens hartnäckig „analytisch“ nennt) immer die gleichen. (Und natürlich hat hier Edgar Allan Poes Dupin die Vorlage abgegeben, auch wenn Doyle seinen Holmes über Dupin herziehen lässt.) Auch der Geigenvirtuose Holmes existiert schon im allerersten Roman. Aber dass er zum Beispiel verschiedene Drogen zu sich nimmt, wie dann gleich zu Beginn des zweiten Romans, wird hier von Watson noch für völlig unmöglich erklärt. Gut, es mag sein, dass Holmes in den ersten Monaten ihres Zusammenlebens an der Baker Street 221b dies noch vor dem Mediziner geheim hielt; aber dass bereits im zweiten Roman die Schussverletzung Watsons vom Arm ins Bein gewandert ist, kann nicht mehr natürlich erklärt werden. Und dass der in A Study in Scarlet noch moribunde Watson bereits im zweiten Roman einigermassen gesund und munter auf Freiersfüßen wandelt (und dazu noch erfolgreich!), ist doch erstaunlich.
Inhaltlich finden also die männlichen und weiblichen Sherlock Holmes-Fans sicher einiges an Futter. Vom Aufbau her kann man aber nur festhalten, dass Doyle gut daran tat, sich in der Folge bei Holmes und Watson vorwiegend auf Kurzgeschichten zu konzentrieren, in denen der Rückblick, der erklären sollte, warum es zum Verbrechen überhaupt kam, kurz und knapp gehalten werden muss. (Nebenbei gesagt, hat Doyle nicht nur die Figur des Detektivs in den meisten Zügen von Poe übernommen – auch diese Struktur des aufklärenden Rückblicks stammt vom US-Amerikaner. Sie ist dann durch Doyle in der Kriminalliteratur kanonisch geworden.)
Fazit: Doyle kann man lesen, wenn einem der Sinn nach etwas steht, das den Intellekt nicht allzu sehr herausfordert. Auf jeden Fall aber wird das Drumherum interessanter sein als die eigentliche Story.
Das spiegelt meine Enttäuschung von vor einigen Jahren wieder, als ich hintereinander weg sämtliche Doyle’schen Holmes-Geschichten im englischen Original gelesen habe. Käme heute ein Schriftsteller auf die Idee, so etwas zu produzieren: er fände keinen Verleger. Ich fand’s weder literarisch ansprechend noch als Kriminalfälle irgendwie spannend oder herausragend. Von der unseligen und überflüssigen Verteufelung der Mormonen will ich gar nicht erst sprechen. Für mich ist es ein Rätsel, wie seinerzeit ein Ruhm entstehen konnte, der bis heute nachwirkt.