Mit Schloß Gripsholm haben wir das wahrscheinlich bekannteste Werk von Kurt Tucholsky vor uns. Seinen Zeitgenossen war er auch als Satiriker bekannt, der unter verschiedenen Pseudonymen gegen den aufkeimenden Nationalsozialismus kämpfte. Er verlor den Kampf und emigrierte schließlich nach Schweden, wo er – die Situation als aussichtslos einschätzend – Selbstmord beging. In Schloß Gripsholm merken wir von alledem wenig, was wohl mit ein Grund ist, warum das Buch bis heute gern gelesen wird.
Natürlich finden sich Zusammenhänge mit dem übrigen Werk und auch mit dem Leben Tucholskys. So ist Schweden, sein Lieblingsland, der hauptsächliche Ort der Handlung, und auch die Kritik am deutschen (Klein-)Bürger kommt nicht zu kurz.
Die Handlung ist wohl einigermaßen bekannt: Zu Beginn finden wir einen Briefwechsel von Kurt Tucholsky mit seinem Verleger Ernst Rowohlt, in welchem letzterer seinen Hausautor bittet, eine Liebesgeschichte zu schreiben, damit er, Rowohlt, etwas habe, das sich auch verkaufen lässt. Tucholsky ziert sich, will (wenn schon) eine Sommergeschichte schreiben – und feilscht für den Rest des Briefwechsels ums Honorar. Den letzten Brief schreibt er schon mit einem Fuß in der Bahn – die vermeintliche Realität des Briefwechsels (die nie eine war) geht über in die Fiktion einer Bahnreise von Berlin über Kopenhagen und Stockholm in die schwedische Provinz. Er reist nicht allein, sondern mit ihm kommt eine Prinzessin, die eigentlich gar keine ist, sondern nur von ihm und seinen Freunden so gerufen wird, weil jede Freundin der drei jeweils Prinzessin heißt. Diese hier, so der Ich-Erzähler, soll aber die letzte sein, die so genannt wird. Diese Prinzessin hier trägt den bürgerlichen Namen Lydia und arbeitet als Sekretärin. Ihr Chef führte den Titel eines Generalkonsuls und handelte ansonsten mit Seifen. Jetzt hat sie fünf Wochen Urlaub, weil ihr Chef nach Italien verreist ist.
Somit haben wir nun sowohl eine Liebes- wie eine Sommergeschichte vor uns. Tucholsky versteht es, seinen Ich-Erzähler, Lydia und auch die Freunde bzw. Freundinnen, die zu Besuch kommen, in einem leicht ironischen Licht darzustellen, was diese Liebes- und Sommergeschichte vor dem Abgleiten in Kitsch bewahrt. Lydias Sprache, Missingsch (Hochdeutsch mit teilweise niederdeutschen Akzent, Wortschatz und Grammatik), spielt dabei eine zentrale Rolle; immer wieder kommt Tucholsky auf sie zurück.
So weit, so banal. Aber Tucholsky wäre nicht Tucholsky, wenn er nicht noch einen ernsteren Handlungsstrang einführen würde. Es gibt in der Nähe des Ferienorts unseres Liebespärchens, also des Schlosses Gripsholm, ein Kinderheim für Mädchen, geführt von einer Deutschen. Diese wird von Tucholsky als Muster einer sadistischen Heimleitung vorgeführt. Nicht, dass sie die Mädchen schlagen würde, sie begnügt sich mit Knüffen und terrorisiert sie mit Strafen wie Essensentzug oder zusätzlichen Hausaufgaben für die kleinsten Fehler. In einer Art Vision wird der Ich-Erzähler einmal eine römische Arena vor sich sehen, in der Tiere aufgehetzt werden, um Gladiatoren zu zerfleischen – alles, um die sadistische Lust der Zuschauer anzustacheln. Diese Vision ist, nebenbei bemerkt, ein kleines sprachliches Meisterwerk. Es ist sicher kein Zufall, dass Tucholsky diese Lust am Quälen wehrloser Menschen gerade an einer Deutschen demonstriert. (Von der Handlung her hätte es keinen Unterschied gemacht, wenn die Heimleiterin Schwedin gewesen wäre.) Doch Tucholsky sah genug solche Menschen am Untergang der Weimarer Republik werkeln. (Dass viele dieser dem Nationalsozialismus nachlaufenden Menschen im Grunde genommen stumpfsinnige Bürokraten waren, die einfach ihre Aufgabe zu erfüllen trachteten, ohne sadistische Hintergedanken – Leute also, die sich einfach nach Ruhe und Ordnung sehnten und unter anderen Umständen gerade so gute Museumswächter hätten werden können, wie sie nun zu KZ-Wächtern wurden – spielte für Tucholsky keine Rolle; ihm ging es ums Prinzip dahinter.) Nicht ohne Grund nimmt der Autor in den Passagen, in denen es um das Schicksal des kleinen Mädchens geht, seine Ironie sehr zurück – um dabei allerdings das Risiko einzugehen (zum Beispiel bei der Schilderung von Leben, Tod und Grab des kleinen Bruders) tatsächlich larmoyant zu werden.
Nun zur Frage aller Fragen: Kann man Schloß Gripsholm heute wirklich noch lesen? Tucholsky gleitet manchmal arg ins Patriarchale ab. So gibt es zwar – recht gewagt für die 1930er – eine zumindest angedeutete Schilderung eines Dreiers. Aber der findet erst statt, als Billie, eine Freundin von Lydia die beiden besucht. Beim vorhergehenden Besuch von Karlchen, einem Freund des Ich-Erzählers, knistert es zwar auch, Karlchen und Lydia küssen sich recht intensiv – zum ‚Letzten‘ aber kommt es da nicht.
Kann man also, war die Frage, kann man Schloß Gripsholm heute wirklich noch lesen? Die Antwort ist nicht einfach. Ja, man kann. Man sollte sich aber dessen bewusst sein, dass man hier ein gut hundert Jahre altes Werk liest, das in vielen Passagen unterdessen doch recht betulich wirkt.
Gelesen in folgender Ausgabe:
Kurt Tucholsky: Schloß Gripsholm. Eine Sommergeschichte. Mit Bildern von Hans Traxler. Frankfurt/M, Wien, Zürich: Büchergilde Gutenberg, 22019.
[Traxlers Illustrationen, nebenbei, bringen die seltsame Mischung aus Gewagtem und Kritischem mit dann doch wieder altmodisch Betulichem in ihrem Zeichenstil sehr gut zum Ausdruck.]
Wer sich unter „Missingsch“ nichts vorstellen kann, erinnere sich an Fernsehaufzeichnungen aus dem Ohnsorg-Theater.