Bei Das falsche Gewicht handelt es sich um einen sehr kurzen Roman, den Joseph Roth bereits im Exil geschrieben und 1937 im Querido-Verlag in Amsterdam veröffentlicht hat. Wegen dieser seiner Kürze (genau 100 Seiten in meiner Ausgabe, die keine großen Seiten aufweist) war ich zuerst versucht, den Text als Kurzgeschichte abzulegen. Er weist aber in seiner Inhaltsstruktur sämtliche Eigenschaften eines Romans auf.
Geradlinig und mit einer Ausnahme chronologisch erzählt Roth die letzten Lebensjahre des Eichmeisters Anselm Eibenschütz. Die Ausnahme betrifft einen kurzen Rückblick ganz zu Beginn des Roman – so sehr am Anfang, dass wir noch kaum von einem Rückblick sprechen können. Die Geschichte von Roths Protagonisten ist im Grunde genommen ebenso simpel wie die Erzählstruktur. Wir treffen auf ihn, wie er auf dem Weg ist nach dem Bezirk Zlotogrod, wo er seine Stelle als Eichmeister antreten soll. Dieser Bezirk liegt im äußersten Osten des Reichs, gleich an der Grenze zu Russland. Eibenschütz war vorher Unteroffizier (den genauen Grad gibt Roth nicht an) und hat seinen Abschied genommen, weil seine Frau das Leben in der Kaserne nicht ausgehalten hat. War es Liebe, als er sie damals geheiratet hat? Er weiß es nicht, und wir Lesenden ebenso wenig. Unteroffiziere in seinem Alter heiraten eben. Jetzt, auf dem Weg zu seiner neuen Wirkungsstätte hat er sich bereits von ihr entfremdet.
Das falsche Gewicht erzählt die Geschichte, wie ein ehrlicher Mann in einem korrupten Umfeld zu Grunde geht. Als Eichmeister hat Eibenschütz die Gewichte der Händler und Händlerinnen auf sämtlichen Märkten des Bezirks regelmäßig zu prüfen. Alle arbeiten sie mit falschen Gewichten, und das weiß auch die Behörde. Seine Vorgänger haben bei den Kontrollen großzügig durch die Finger geschaut; immerhin sprang so auch für sie noch etwas heraus. Eibenschütz aber ist ehrlich und korrekt, und das macht ihn im Bezirk nicht gerade beliebt.
Er muss im Folgenden erleben, wie seine Frau von seinem Schreiber schwanger wird. Er kann sich zwar noch an den beiden rächen, aber nun ist sein Schicksal besiegelt. Er kann nicht ohne Liebe leben, weil nur noch sie ihm den Halt geben kann, den er vermisst, seit er seine Uniform ausgezogen hat. Als er eines Tages in einer verruchten Schenke unmittelbar an der Grenze die schöne Euphemia sieht, ist es denn auch um ihn geschehen. Mit allerlei Kniffen und Ränken (denn längst ist er nicht mehr ehrlich und korrekt – längst sieht auch er durch die Finger, allerdings nicht, weil er bestochen wäre, sondern weil ihn seine Arbeit im Grunde genommen nicht mehr interessiert) – erreicht er, dass der Wirt und Eigentümer der Schenke (zugleich der Liebhaber Euphemias) ins Gefängnis kommt und er von Amtes wegen als Verwalter der Schenke dort Einsitz nehmen kann. Tatsächlich kann er nun auch Euphemia erobern. Er liebt sie bis zum Wahnsinn. Liebt sie auch ihn? Irgendwie wohl schon. Sie liebte aber auch den vormaligen Wirt, sie liebt auch den plötzlich auf der Bildfläche erscheinenden mehr als dubiosen Marroni-Brater und hält nun zu ihm, weil er die älteren Rechte auf sie hat. Dies stürzt Eibenschütz endgültig ins Verderben. Er wird zum Trinker, wie Roth explizit sagt. (Wobei, als Randbemerkung, Roth im diese Bezeichnung gibt, weil er viel und oft vom Neunzigrädigen trinkt, einem billigen, aber offenbar hochprozentigen Schnaps. Für Roth, der einmal sinngemäß an Stefan Zweig schrieb, er sei kein Alkoholiker, weil er nur Wein trinke, macht dies offenbar einen Unterschied.)
Eibenschütz’ Tod (der wieder freigekommene ehemalige Wirt der Schenke erschlägt ihn) ist dann nur noch der logische Schluss des Ganzen.
Die Geschichte wird, wie schon gesagt, geradlinig erzählt. Wir finden keine Verwicklung von Rahmen- und Binnenerzählung wie in der Beichte eines Mörders, auch wird in der Er-Form erzählt. Und selbst wenn Das falsche Gewicht weder sprachlich noch strukturell an Roths großen Roman Radetzkymarsch heranreicht, so ist doch interessant zu sehen, dass die Erzählsituation des Schlusses verblüffend ähnlich aussieht. In Radetzkymarsch lebt der letzte Spross der Familie Trotta von Sipolje in einer ähnliche geografischen wie menschlichen Grenzsituation, ohne Liebe und ohne wirkliche Freunde, wie hier Eibenschütz – eine Situation, die beide nur mit Genuss von hochprozentigem Alkohol aushalten. Wenn aber Carl Joseph Trotta von Sipolje in einem letzten (allerdings dummen) Akt von Menschenliebe stirbt, so wird Eibenschütz auf dem Weg zu Euphemia erschlagen, die er ein letztes Mal mit List und Tücke zurückerobert zu haben glaubt.
Abstriche müssen also gemacht werden (wobei selbst ein nicht ganz so guter Roman von Joseph Roth noch immer einen guten Roman für die deutsche Literatur darstellt) – Abstriche insbesondere beim Frauenbild, das Roth transportiert. (Seltsam genug, finde ich, dass bisher niemand auf die Idee gekommen ist, die Geschichte aus der Sicht von Regina, Eibenschütz’ Frau, zu erzählen. Sie könnte ganz anders klingen.)
Nichts also, das man gelesen haben muss; nichts aber auch, das gelesen zu haben, man bereut. Aber Roth in seinen besten Momenten konnte es noch viel besser.