Joseph Roth: Beichte eines Mörders, erzählt in einer Nacht

Stilisiertes Potraitfoto von Joseph Roth. - Ausschnitt aus Buchcover.

Schon im Titel dieses kurzen Romans von Joseph Roth stimmen so ein paar Dinge nicht: Zunächst einmal haben wir hier keine „Beichte“ im eigentlichen Sinn des Wortes vor uns. Es gibt hier keine Seelsorgenden, die dem Protagonisten Golubtschik die Beichte abnehmen und ihm anschließend Busse und Absolution erteilen würden. Es ist nicht einmal eine „Beichte“ im übertragenen Sinn, wie wir das Wort zum Beispiel verwenden, wenn wir sagen, dass das Kind seinen Eltern „beichtet“, es habe heimlich einen Keks aus der Dose genommen. Tatsächlich erzählt Golubtschik einfach mehr oder weniger sein Leben. In diesem Leben aber – und das ist das Zweite, das im Titel nicht so ganz stimmt – gibt es keinen Mord. Jedenfalls erzählt Golubtschik von keinem; es mag zwar sein, dass er in seiner Eigenschaft als Spitzel der Ochrana (wie die verschiedenen Abteilungen der zaristischen Geheimdienste im Volksmund zusammenfassend genannt wurden, wie auch Golubtschik seinen Arbeitgeber nennt, ohne zu spezifizieren, wo er genau arbeitete) – dass er also in anderen Zusammenhängen auch schon Leute (quasi dienstlich) umgebracht hatte – aber davon erzählt er nichts. Erzählt wird diese „Beichte“ wahrscheinlich zu Beginn der 1930er Jahre1) in einem russischen Restaurant in Paris. Die Zuhörer sind ein paar zufällig anwesende Russen, der Wirt und das Ich der Rahmenerzählung. Dieses Ich (Roth?) besucht regelmäßig die gegenüber seinem Hotel liegende Kneipe, um dort etwas zu essen oder ein Glas Wein oder Schnaps zu trinken. Damit ist auch der Rahmen für die Binnenerzählung geliefert, in der Golubtschik sein Leben beichtet. Das Ich des Rahmens versteht zwar russisch und kann somit den Diskussionen der anwesenden Russen folgen, gibt das aber nicht preis, bis zu dem Moment, wo zwei Russen, auf einen dritten zeigend, der gerade eingetreten ist und zum Tresen marschiert, einander auf Russisch fragen: »Warum ist unser Mörder heute so finster?“« Überrascht blickt Roth(?) auf den Eingetretenen und verrät so, dass er die Russen verstanden hat. Nicht er, sondern der soeben Eingetretene, der sich später als Golubtschik vorstellt, erklärt, dass der Ich-Erzähler des Rahmens Russisch gelernt habe, als er an der Ostfront diente und sechs Monate in der so genannten Okkupationsarmee gewesen sei. Später sei er noch einmal nach Russland zurück gekehrt, eigentlich in die Sowjetunion, im Auftrag einer grossen Zeitung. Letzteres trifft für den realen Roth tatsächlich zu, ob und in welcher Funktion aber Roth im Ersten Weltkrieg gedient hat, ist bis heute ungeklärt.

Schon in der Rahmenerzählung finden wir also Dinge, die nicht unbedingt stimmen. Die Binnenerzählung dann, Golubtschiks Lebensgeschichte, häuft endgültig Unwahrscheinlichkeit auf Unwahrscheinlichkeit. Golubtschik gibt an, als nominelles Kind eines Försters in der russischen Provinz aufgewachsen zu sein; in Tat und Wahrheit aber sei er der illegitime Sohn des Fürsten Krapotkin. Er begibt sich nach Odessa, um vom Fürsten die Anerkennung seiner Sohnschaft zu verlangen. Angestachelt von einem ungarischen Handlungsreisenden dringt er zum Fürsten vor – nur um glorios abgeschmettert zu werden. In der Erinnerung gibt er dem unvermittelten Auftreten des legitimen Fürstensohns die Schuld. Der ungarische Handlungsreisende, der im Verlauf der Geschichte ebenso ominös verschwinden wie wieder auftauchen wird, flüstert ihm ein, der „legitime“ Sohn sei seinerseits das Produkt eines Ehebruchs der Fürstin – also noch weniger legitim als er, Golubtschik. (Wie weit man diese vertrackte Familiensituation als Pastiche auf die Weihnachtsgeschichte lesen kann, lasse ich dahin gestellt – dass der hinkende Ungare der Teufel ist, spricht Golubtisch sogar explizit aus.) Im weiteren Verlauf der Geschichte wird sich Golubtschik derart naiv und ungeschickt verhalten (er selber behauptet, vom Ungarn schlecht beraten worden zu sein), dass er sich nur vor einer längeren Gefängnisstrafe retten kann, indem er der Geheimpolizei als Spitzel beitritt.

Nicht, dass er sich nun geschickter verhält. Er lobt zwar in seiner Erzählung seine guten Ergebnisse als Spitzel (allerdings ohne Beispiele zu geben), muss aber gleichzeitig zugeben, dass er nicht befördert wird. Es folgt das unvermeidliche Desaster. Die Geschichte davon, die er erzählt, beweist ein weiteres Mal seine Naivität und sein Ungeschick. Eines Tages kommt nämlich ein französischer Schneider nach Russland, in seinem Gefolge ein paar junge Frauen – was man in meiner Jugend ‚Mannequin‘ genannt hat und heute ‚Model‘ nennt. Der Geheimdienst erhält den Befehl, jede dieser fünf oder sechs jungen Frauen einzeln zu bewachen. Es werden also fünf junge Leute für diese Aufgabe abgestellt, darunter Golubtschik. Unprofessionell, wie der junge Mann ist, verliebt er sich prompt in die junge Französin. Dies wird zu seinem Verderben, als sich auch der andere, der ‚echte‘ Sohn des Fürsten Krapotkin, in Lutetia (der Name, den ihr der Schneider gegeben hat) verguckt – auch wenn der sie nur für ein paar Nächte haben will. Irgendwann läuft die Situation aus dem Ruder; Golubtschik überrascht die beiden bei einer gemeinsamen Nacht und prügelt sie halbtot. Das heißt: Zunächst ist er der Meinung, sie ganz tot geschlagen zu haben – es zeigt sich aber, dass beide überlebt haben. (Das ist offenbar der „Mord“, den Golubtschik in der Kneipe bei ganz viel Schnaps beichtet – versuchter Totschlag im Affekt.) Golubtschik wird nach Paris versetzt, wo er (unter dem Namen Kropotkin!) die dort lebende Gruppe russischer Anarchisten infiltrieren soll. Er allerdings versucht (umsonst? – Wir erfahren es nicht) sogar einige zu retten.

So weit in etwa seine Geschichte. Zum Zeitpunkt seiner Erzählung in der Kneipe scheint er bereits ausser Dienst zu sein. Dann aber – es ist bereits Morgen, draussen wird es hell – erscheint Lutetia in unserem russischen Restaurant. Golubtschik verschwindet unter einem Tisch, sie findet ihn nicht. Mit dem Verschwinden unter dem Tisch, verschwindet Golubtschik aber auch aus der Erzählung. Er verlässt das Restaurant noch vor dem Ich-Erzähler der Rahmenerzählung.Denn wir sind zurück in diesem Rahmen, wo nun auch der andere Ich-Erzähler (Roth?) die Kneipe verlässt, sein Hotelzimmer betreten will, aber auf dem Weg dorthin sieht, wie ein hinkender Mann, der mit ungarischem Akzent Französisch spricht, das Zimmer neben dem seinen erhält. Auch dieser Ich-Erzähler flieht.

Zum Schluss noch ein paar Bemerkungen zu den Namen der Protagonisten und der wichtigen Orte. Die Rue des Quatre Vents der Rahmenerzählung existiert tatsächlich, ob es das Hotel, in dem der Ich-Erzähler gewohnt hat und das russische Restaurant vis-à-vis ebenfalls gibt oder gegeben hat, entzieht sich meiner Kenntnis. Lutetia, der Name der Geliebten Golubtschiks hingegen ist doch recht seltsam. 1936, als der Roman geschrieben wurde, war das ja vielleicht noch ein Insider-Witz für Kenner; heute weiß jedes Kind aus den Geschichten mit Asterix & Obelix, dass dies der römische Name war für jene Stadt, aus der sich Paris entwickeln sollte – die Stadt, in der die Rahmenerzählung spielt. Sollte das spannungsgeladene Verhältnis von Golubtschik und Lutetia das von Roth und Paris spiegeln – oder von Roth und Keun? Und dann ist da noch der Name Krapotkin. Golubtschik, der so gern ein Sohn des Fürsten Krapotkin wäre, und dann wirklich in Paris als Fürst Krapotkin auftreten darf – mit der geheimen Mission, die russischen Anarchisten-Zellen dort auszuspionieren … Krapotkin, Anarchisten … dachte Roth hier eventuell an jenen Pjotr Alexejewitsch Kropotkin, dessen Name mir unterm Tippen ständig in den Krapotkin hinein funkte; Kropotkin, der allerdings selber Anarchist war? Die Zeit könnte stimmen, Pjotr Alexejewitsch Kropotkin lebte von 1905 bis 1917 im Exil in Westeuropa. Vielleicht war auch das als kleiner Witz en passant gemeint – als Hinweis darauf, wie vieles in dieser Geschichte fast stimmen könnte.

An der Sprache Roths gibt es bei diesem Roman nichts auszusetzen. Natürlich könnte man an ihr aussetzen, dass der Försterssohn viel zu schön und viel zu flüssig erzählt. Aber ich würde mir keine andere, ‚realistischere‘ Sprache wünschen. Und genügend Stoff zum Nachdenken liefert der Text auch. Ohne Zweifel eine der besten Erzählungen der noch jungen deutschen Exilliteratur.


1) Der erste Satz des Romans lautet: Vor einigen Jahren wohnt ich in der Rue des Quatre Vents. Wenn wir davon ausgehen, dass mit dem „Ich“ der Rahmenerzählung Roth selber gemeint ist, und in Betracht ziehen, dass der Roman 1936 zum ersten Mal gedruckt wurde, kommen wir auf diese ungefähre Zeit.

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