Libretti sind so etwas wie die Stiefkinder der Literatur. Weder Literaturwissenschaft, noch -kritik und schon gar nicht das große Publikum interessieren sich sehr für Libretti als Text. (Es mag sein, dass irgendwo auf dieser Welt ein komparatistischer Lehrstuhl existiert, in dessen Beschreibung der Nebensatz fungiert: „unter besonderer Berücksichtigung von Gebrauchstexten für Opern“ oder so ähnlich.) Vielfach sind auch auf den Zetteln zu einer Aufführung die Librettist:innen gar nicht oder bestenfalls winzig klein nach Bühnenmeisterin und Kostümschneider aufgeführt. Dass ich hier doch ein Libretto vorstelle, hängt mit der Person der Verfasserin zusammen und dem Umstand, dass wir hier eine sehr interessante Konfiguration vorfinden. Dazu aber später.
Ingeborg Bachmann war sich der Ausnahmesituation einer Librettistin wohl bewusst, als sie in enger Kooperation mit dem Komponisten Hans Werner Henze am Libretto für Der junge Lord arbeitete. 1965 (im Folgejahr der Uraufführung der Oper in Berlin) schrieb sie den Essay Notizen zum Libretto, in dem sie darauf einging. Wenige Librettos erlangten Ruhm, wie sie findet. Das führt als Reaktion dazu, dass meist nur zweit- oder drittrangige Autoren (Skribenten in Bachmanns Diktion) sich mit dieser Textart abmühen – als Ausnahmen führt sie nur Da Ponte, Boito und Hofmannsthal an. Schikaneder scheint sie in der Rubrik der Skribenten zu führen, aber warum sie den vielleicht genialsten aller Librettisten bei Seite lässt, nämlich Richard Wagner, weiß ich nicht. Vielleicht, weil er nur Libretti zu eigenen Opern schrieb. Goethe, der immerhin laut darüber nachdachte, ein Libretto für eine Fortsetzung zur Zauberflöte zu schreiben, wird ebenfalls nicht erwähnt. Mich für meinen Teil interessieren am vorliegenden Libretto zwei Phänomene.
Das erste ist, nachzuvollziehen, wie eine gute Autorin einen (zugegeben vielleicht nicht ganz so) guten Autor bearbeitet, um den Übergang in eine ganz andere Textsorte zu schaffen. Auf dem Titelblatt steht, unter dem eigentlichen Titel, noch Folgendes:
Komische Oper in zwei Akten Nach einer Parabel aus »Der Scheik von Alessandria und seine Sklaven« von Wilhelm Hauff Musik von Hans Werner Henze
Hauffs Erzählung eine Parabel wäre mir persönlich nicht in den Sinn gekommen, aber es ist nicht falsch. Auffällig ist aber, dass Bachmann(?) den Hauff’schen Titel der Parabel verschweigt – der ja, wie wir schon bei der Vorstellung des Märchen-Almanachs auf das Jahr 1827monierten, mit seinem Titel die Schlusspointe vorweg nimmt und damit einiges an Spannung. (Auch bezieht Bachmann sich – die Literaturwissenschaft merke auf! – nur auf Hauff, dass dieser seinerseits von E. T. A. Hoffmann übernommen hat, wird verschwiegen. Warum auch immer.)
Dann aber kommen die wirklich interessanten Änderungen Bachmanns. Hauff hat in seiner Erzählung ja kaum individuelle Protagonisten eingeführt. Ein paar Personen aus der Stadtbevölkerung tragen den Titel ihrer Funktion, wenn er sich auf sie bezieht, der Fremde ist ein Fremder und so kann kein persönliches Interesse an einer Figur entstehen. (Insofern stimmt die Bezeichnung Parabel für Hauffs Text.) Aber das geht auf der Bühne nicht. Also finden wir einen Haufen namentlich eingeführter Personen, die dann auch untereinander agieren. Eine Unterscheidung nach Männern und Frauen ist für die Oper ebenfalls natürlich, immerhin müssen die beiden Geschlechter auch schon mal in Chören gegen- und miteinander wirken. (Kinder kommen auch vor – aber nur als Chor.) Von den Hauptpersonen ist einzig der Fremde, der bei Bachmann Sir Edgar heißt, eine stumme Rolle.
Anders als bei Hauff übrigens wirkt sich die Abneigung der Stadtbevölkerung nicht nur im Ratschen und Klatsch aus. Der schwarze Diener von Sir Edgar wird, „nur“ von den Kindern allerdings, im Winter mit Schneebällen derart bombardiert, dass er sich nicht mehr zu helfen weiß, und er vom Sekretär gerettet werden muss. Die Zeit Bachmanns wusste, wohin Fremdenhass führen kann. Doch nicht das macht meiner Meinung nach das Eigentümliche dieser Oper aus.
Um das Interesse beim Publikum zu wecken, darf in einer Oper auch eine Liebesgeschichte nicht fehlen. Hier nun wird es spannend, denn Bachmann verweigert sich der üblichen Systematik bei Aufbau und Entwicklung einer Romanze. Sie fängt zwar mit der üblichen Masche an: Ein paar junge Frauen spazieren auf der Straße und unterhalten sich. Sie sind, wie junge Frauen auch heute noch sind: schnippisch, arrogant, besserwisserisch, laut. Und unsicher. (Ja, junge Männer sind auch so.) Luise, eine von ihnen, hat ein bisschen ein Auge auf einen jungen Studenten geworfen, und wir erleben hier, wie dieser (dem Luise offenbar auch nicht gleichgültig ist) mit versteckten Zeichen die Aufmerksamkeit der jungen Frau zu erregen weiß. Im Laufe der Oper werden sich die beiden immer näher kommen.
Schließlich aber folgt The Turn of the Screw. Sir Edgars angeblicher Neffe, der sich (im Zeitraffer) genau so entwickelt hat wie bei Hauff, wird zu einem Ball geladen. Zunächst lässt Sir Edgar, bei dem der Ball stattfindet, seine Besucher sein Haus anschauen. Auch Wilhelm ist vor Ort, und er ist der einzige, der sich aufrichtig für die naturkundliche Sammlung des Gastgebers interessiert. Auf Nachfrage des Sekretärs von Sir Edgar (der dessen Sprachrohr ist) bekennt er, großer Anhänger von Goethes Farbenlehre zu sein. Damit erklärt sich auch die präzise Einführung in Ort und Zeit der Szenenanweisung ganz zu Beginn der Oper:
Im Jahre 1830. Auf dem kleinen schönen Hauptplatz von Hülsdorf-Gotha.
1830 passt sehr gut zur Farbenlehre, und Gotha entpuppt sich als Anspielung nicht nur auf den berühmten Adelskalender, sondern auch auf Goethe, in dessen Hülle die deutsche (Trivial-)Kultur so lange eingewickelt war. Selbst des Studenten Name Wilhelm weist nun nicht nur auf den Verfasser der Vorlage, Wilhelm Hauff, sondern auch auf den bildungsbeflissenen Wilhelm par excellence: Wilhelm Meister.
So weit Bachmanns mehr oder weniger der literarischen Tradition verpflichteten Text-Spielchen. Auf dem Ball aber geschieht nun noch etwas anderes. Luise, vor kurzem noch ganz brave Geliebte Wilhelms, des Studenten, erlebt, wie Lord Barras (wo wird der Neffe genannt) sie im Tanz vor allen anderen anwesenden Frauen vorzieht. Er tanzt wild und ausgelassen, wie das auch Hauff beschreibt. Aber er zieht sie vor. Vor dieser (im eigentlichen Sinn des Wortes) Naturgewalt hält Luisens bürgerlich-zivilisierte Erziehung nicht stand. Sie fühlt, wie auch sie sich zum vermeintlichen Lord mehr und mehr hingezogen fühlt. Der aber agiert immer wilder, bis er sich zum Schluss die Kleidung vom Leibe reißt und sich als der Affe entpuppt, der er ist. Luise, von Lord Barrat gerade noch im Tanz an die Wand geworfen, liegt ohnmächtig am Boden. Aber diese Ohnmacht leitet sich nicht von ihrem Aufprall an der Wand her, sie hat, wie sich herausstellt, die Rückverwandlung des Affen Adam(!) sehr wohl mitgekriegt. Wird es für sie noch ein Happy Ending geben? Die Regieanweisung lässt daran zweifeln:
Sie umarmt Wilhelm zaghaft und verbirgt ihr Gesicht.
Wird sie den anderen, wird sie Wilhelm, wird sie vor allem sich selber je wieder ihr Gesicht zeigen können?
Die Oper endet mit den entsetzten Ausrufen der Gesellschaft:
Ein Aff! Ein Aff! Ein Aff!
Ein schlechtes Omen für die junge Frau.