Lange bevor ihre Prosa bekannt wurde, war Ingeborg Bachmann schon durch ihre Lyrik berühmt. (Wie überhaupt die 1950er in der deutschen Lyrik, der weiblichen an vorderster Front, eine glänzende Epoche darstellen.) Anrufung des Großen Bären erschien 1956 und ist bis heute einer der bekanntesten Lyrikbände nicht nur Bachmanns, nicht nur jener Zeit, sondern der ganzen deutschen Lyrik.
Schon der Titel der Sammlung, der auch der Titel eines der enthaltenen Gedichte ist, weist auf die Spannungen hin, die Bachmann in ihren Gedichten ausdrückt. Einerseits ist der Große Bär ein Sternbild am nördlichen Himmel. Auf Deutsch nennen wir dieses Sternbild meist den Großen Wagen. Es ist ein Sternbild, das in Mitteleuropa das ganze Jahr über gesehen werden kann, und schon das Kind hat gelernt, dass es über die beiden hinteren Sterne des Kastens des Wagen den Polarstern finden kann. Der Große Bär ist also so sehr mit dem Norden verbunden, wie es ein Sternbild nur sein kann. Diesem großen, nordischen Bären (im Gedicht auch ein alter Bär) wird in der Sammlung immer wieder der Süden gegenüber gestellt: Italien mit Rom und Neapel, die Azoren – und zwar keineswegs ein heiler, sonniger Süden. Doch schon im Begriff des ‚Großen Bären‘ herrscht Spannung. In der Fachsprache (Latein) der Astronomie heißt das Sternbild ‚Ursa major‘ – die Große Bärin. Diese Spannung zwischen Frau und Mann zieht sich bei Bachmann durchs gesamte Werk. Doch ein Sternbild ruft man im Normalfall auch nicht an. Das Gedicht selber zeigt den auch einen höchst realen Bären, der durch den Wald trollt auf der Suche nach Nahrung und der angerufen wird. Bachmann greift hier zurück bis auf alte Naturreligionen. Womit bereits gesagt ist, dass dieser höchst reale Bär dann seinerseits wieder mythisch überhöht wird. „Es kann auch alles anders sein“, ist eine der wichtigen Aussagen der Sammlung.
Die Gedichte weisen auch sonst Spannung auf zwischen Hoffnung und Verzweiflung. Rückgriffe auf die Romantik, vor allem das Märchen, erzeugen immer nur kurzfristige Hoffnungsschimmer. Der Bär, der sich im Märchen Schneeweißchen und Rosenrot als harmloser Prinz entpuppt – er könnte sich wieder von der Leine des blinden Dompteurs losreißen und alle Zapfen jag[en], die von den Tannen gefallen sind, den großen, geflügelten, die aus dem Paradiese stürzten, wie es am Ende des Gedichts Anrufung des Großen Bären formuliert wird. Die Menschen haben das Paradies verloren und finden nichts anderes – eine lyrische Umformung der Situation des absurden Menschen, wie ihn Camus gezeichnet hat.
Und so finden wir uns in Bachmanns Gedichten zwischen Hoffnung und Verzweiflung, zwischen Romantik und Expressionismus (was sich formal dem Symbolismus nähert). Es ist an den Lesenden, diese Spannung auszuhalten.