Marcel Proust: À la recherche du temps perdu IV. Sodome et Gomorrhe (1) [Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. S. u. G.]

Schrift "A LA RECHERCHE DU TEMPS PERDU" rot auf beige. Ausschnitt aus Buchcover.

Gegen Ende des dritten Buchs Le côté de Guermantes hat Prousts Ich-Erzähler nachgerade in der Art eines ‚Cliffhangers‘ angekündigt, er habe in seinem Ausguck oberhalb der Wohnung seiner Eltern im hôtel de Guermantes etwas gesehen, das sein Weltbild grundlegend geändert habe, wolle aber zuerst im Zusammenhang erzählen, wie seine Nachfrage bei M. und Mme de Guermantes verlaufen sei. Im vierten Buch kommt er nun tatsächlich darauf zurück, allerdings auch nicht sofort.

Zunächst einmal fällt auf, dass Proust nun die Strukturierung seines Textes geändert hat. Er verwendet plötzlich eine Art Großkapitel, denen er zu allem Überfluss jene Sorte zusammenfassende Überschrift verpasst, wie sie 100 oder 200 Jahre vor ihm einmal üblich gewesen war. Dann fällt auf, dass er das erste dieser Großkapitel mit einem Zitat von Alfred de Vigny einleitet, in dem das Thema Sodom und Gomorrha skizziert wird, in der Art, wie Proust im Folgenden die beiden Wörter verwendet. Denn als allererstes finden wir nicht die Fortsetzung der Erzählung (bzw. den Rückgriff darauf, was unser Ich-Erzähler denn nun gesehen hat von seinem Ausguck), sondern einen theoretischen Essay zum Thema der hommes-femmes, der invertis – der Frauenmänner also bzw. der Umgedrehten. Auf gut Deutsch: der Homosexuellen. ‚Sodom‘ wird im Folgenden für die männliche Homosexualität stehen, ‚Gomorrha‘ für die weibliche. Im weiteren Verlauf dieses eingeschobenen Essays vergleicht er die Stellung der Homosexuellen mit der der Juden (wir sind mit der erzählten Zeit noch immer in der Epoche des Dreyfus-Skandals).

Erst, nachdem er dies abgehandelt hat, schreitet Proust zur Erzählung dessen, was sein Ich-Erzähler denn nun gesehen hat, das sein Weltbild auf den Kopf gestellt hat. Im dritten Buch wurde der Verlauf ja so erzählt, als ob der Ich-Erzähler, nachdem er festgestellt hatte, dass sein Ausguck etwas ungünstig lag, um M. und Mme de Guermantes abpassen zu können (er wollte ja von ihnen wissen, ob die Einladung zu einer Abendgesellschaft ihrer nahen Verwandten, der Prinzessin von Guermantes, echt sei und nicht etwa ein schlechter Scherz seiner Freunde (welcher? ausser Saint-Loup und Bloch werden keine erwähnt)). Also begab er sich hinunter ins Treppenhaus, wo er dann schließlich die beiden tatsächlich abfangen konnte. Das alles klingt im dritten Buch noch so, wie wenn sich das alles in rascher Aufeinanderfolge ereignet hätte. Im vierten Buch sehen wir einmal mehr den großzügigen Umgang mit der Zeit, den sich der Ich-Erzähler immer wieder erlaubt.

Zunächst einmal erzählt er nämlich, wie er dort in seinem Ausguck eine seltene Blume erblickt. Da sie weit und breit die einzige ihrer Gattung ist und dazu noch zu einer Sorte gehört, von der männliche und weibliche Blüten existieren, ist die Chance ihrer Fortpflanzung sehr gering, überlegt sich der Ich-Erzähler – wohl um seine Zeit zu vertrödeln. Nicht nur müsste sich eine Hummel in den öden Hinterhof verirren, sie müsste auch noch gerade vorher eine der seltenen männlichen Blüten dieser Blumenart besucht haben. Wie er gerade so müßig darüber nachdenkt, fliegt tatsächlich eine Hummel in den Hinterhof. Gespannt beobachtet der Ich-Erzähler, ob sie allenfalls tatsächlich die Blüte besuchen wolle. Er verändert dabei seinen Platz um ein weniges und sieht nun plötzlich etwas ganz anderes.

Unten im Hof verlässt Jupien, ein kleiner Handwerker, der im hôtel de Guermantes seine Boutique hat, diese wie jeden Morgen, um kurz zu Hause nach dem Rechten zu sehen. Zur gleichen Zeit betritt der Baron de Charlus den Hof auf dem Weg zu seinem Bruder, dem Duc de Guermantes – ebenfalls wie jeden Morgen. Zum ersten Mal aber überhaupt treffen der junge Handwerker und der schon etwas ältere Baron aufeinander. Jupien verlässt den Hof, nur um sehr rasch zurück zu kommen. Er und der Baron sprechen kurz miteinander, dann verlassen sie den Hof in Richtung einer gerade leer stehenden Boutique im Gebäudekomplex des hôtel de Guermantes.

Ab da wird für mich das Benehmen des Ich-Erzählers äusserst rätselhaft. Jeder andere in seiner Lage hätte die beiden wieder vergessen und sich auf sein Blümchen und sein Bienchen konzentriert oder auf die beiden Guermantes, die er ja abpassen wollte. Vielleicht war es ja tatsächlich der Blümchen-Sex, der ihn auf die Idee brachte und deshalb eingeschoben werden musste. Jedenfalls aber steigt unser Ich-Erzähler nun die Treppe hinunter. Nicht etwa, um direkt unten Posten zu fassen, wie er es uns im dritten Buch noch glauben machte, sondern er schleicht quer über den Hof, um ebenfalls die leer stehende Boutique zu betreten. Dort wird er Ohrenzeuge eines Sexualaktes zwischen Jupien und dem Baron. Das öffnet ihm, sagt er, die Augen über viele Seltsamkeiten des Barons. Was aber hat den Ich-Erzähler motiviert, seinen Ausguck zu verlassen? Wir wissen ja schon, dass Proust seinen Ich-Erzähler auch schon mal verdoppelt und einen Erzähler kennt, der berichtet, was gerade läuft, sowie einen, der aus einer späteren Sicht die Handlungen der Protagonisten oder auch des eigentlichen Erzählers kommentiert. Hier aber schweigen beide. Der Ich-Erzähler erzählt unbefangen, ohne Spur von Verlegenheit, gerade als Voyeur unterwegs gewesen zu sein (eigentlich ja als ‚Écouteur‘; er ja hat nur zugehört, nicht zugeschaut). Eine Erklärung oder Entschuldigung scheint ihm das aber nicht wert zu sein. (Es ist, nebenbei, nicht der einzige Fall, bei dem der Ich-Erzähler eine (homo-)sexuelle Handlung beobachtet, ohne sich deswegen zu erklären oder gar entschuldigen.) Worüber er hingegen – zumindest im Nachhinein – nachdenkt, ist, dass es eigentlich geschickter gewesen wäre, sich durch den Keller in die besagte Boutique zu schleichen, weil die Chance, auf dem Weg quer über den Hof erwischt zu werden, doch recht hoch war. Die Kellerräumlichkeiten des hôtel de Guermantes sind alle miteinander verbunden, was unser Ich-Erzähler ganz genau weiß – woher und warum, bleibt ebenso ein Rätsel wie sein ganzes Handeln in dieser Affäre.

Doch das ist nicht das letzte Rätsel. Dem Ich-Erzähler sind nämlich die Augen nicht nur über Jupien und Charlus aufgegangen. Am Abend, auf der Gesellschaft der Prinzessin von Guermantes, erblickt er plötzlich überall, bei den adligen Gästen (inklusive Saint-Loup, der es nur selber noch nicht weiss!) ebenso wie beim Personal – Homosexuelle. Jupien und Charlus erwischt zu haben, hat ihn offenbar auch darüber erleuchtet, mit welchen Blicken, Gesten und Bewegungen Homosexuelle einander in einer Art Geheimsprache ihre Veranlagung mitteilen. Auch dieser Zusammenhang wird nicht weiter erklärt. (Dass es so eine ,Geheimsprache’ offenbar wirklich gibt, kann man im 100 Jahre später entstandenen Blutbuch von Kim de l’Horizon nachlesen, wo genau dasselbe der Fall ist. Außer, wir gehen davon aus, dass Kim de l’Horizon die vorgestellten Passagen aus dem vierten Buch der Suche nach der verlorenen Zeit kennt und mit seinem Publikum spielt – was ich nicht für unmöglich halte.)

Wir verlassen die Abendgesellschaft mit dem Ich-Erzähler, der seine Albertine wiedersehen will. Vorher aber diskutiert er noch mit dem ebenfalls anwesenden Swann, der ihm eröffnet, dass Prinz und Prinzessin de Guermantes, im Gegensatz zu ihren öffentlichen Aussagen, ihm enthüllt hätten, dass sie durchaus Dreyfusards seien und der Meinung, beim damaligen Prozess gegen den jüdischen Offizier sei einiges nicht mit rechten Dingen zugegangen, das Urteil müsse revidiert werden. Damit schließt Proust den Kreis zum ersten Kapitel, bevor er zu etwas Neuem schreitet.

Nur der Rätsel sind noch nicht alle. Denn nun kommt Albertine ins Spiel. Sie hat den Ich-Erzähler an jenem Abend zwar versetzt, aber die beiden versöhnen sich wieder. Der Ich-Erzähler reist zum zweiten (und letzten) Mal nach Balbec, wo sich auch Albertine aufhält. Wo sich die ganze Mädchen-Clique vom ersten Besuch des Ich-Erzählers aufhält. Schon das ist seltsam genug, denn aus den Mädchen an der Grenze der Reifung zur Frau sind nun wirklich junge Frauen geworden. Sie spielen aber immer noch Spiele, die seltsam genug sind. Hier nun ist es der alte Arzt der Familie, Cottard, der dem Ich-Erzähler die Augen öffnet. Albertine, die gerade mit ihrer Freundin Andrée einen Walzer tanzt (Walzer galten lange Zeit als obszöne, erotische Tänze!), befinde sich, so der erfahrene Arzt, eigentlich gerade mitten im Liebesspiel mit Andrée und beide seien unterdessen kurz vor einem Orgasmus. Wir finden uns so auf die andere Seite geworfen, nach dem Sodom der männlichen Homosexuellen ins Gomorrha der weiblichen. Und wie der Ich-Erzähler vorher plötzlich überall männliche Homosexuelle sieht, stößt er nun plötzlich auf jede Menge weibliche.

Das ist seltsam und rätselhaft genug. Das noch größere Rätsel ist meiner Meinung nach aber, warum der Ich-Erzähler, der die männlichen Homosexuellen eher amüsiert zur Kenntnis genommen hat, bei den weiblichen nachgerade mit Abscheu reagiert. Aus welchem Grund auch immer hält er das Verhältnis mit Albertine aufrecht. Allerdings quält er sie verbal vor ihren Freundinnen auf bösartigste Weise, bis sie in Tränen ausbricht. Diese seltsame Eifersucht (von einem, der gerade noch gegenüber Swann damit geprahlt hatte, nie eifersüchtig gewesen zu sein!), diese Freude am Quälen: Sie werden erzählt, aber nicht kommentiert oder erklärt. Wenn man eine Erklärung sucht, ist man fast gezwungen, auf den Menschen, auf Proust selber, Rückgriff zu nehmen – ein Damm, den zu brechen ich mich immer scheue, denn einmal gebrochen ist das Tor offen zu jeder Art von psychoanalytischer Interpretation, die dann meist doch nur in Wortgeklingel endet.

Und alle diese Ereignisse, diese (homo-)sexuell aufgeladene Atmosphäre, diesen erotischen Proust, dessen Ich-Erzähler wohl nicht von ungefähr gerade die Geschichten aus Tausendundeiner Nacht liest – all dies finden wir gleich neben ästhetischen Diskussionen zwischen dem Ich-Erzähler und einer alten Dame aus dem Hochadel, wo ersterer in Malerei und Musik die älteren ‚realistischen‘ Künstler Manet und Chopin verteidigt gegenüber der Strömung der Zeit (verkörpert in der Schwiegertochter der alten Dame), die ihnen die jüngeren, impressionistischen Monet und Debussy vorzieht. Er tut dies, indem er in beiden Fällen darauf hinweist, wie die Jüngeren ganz offen zugegeben haben, dass sie so vieles den Älteren verdanken – was auf die sowieso wankelmütige und leicht zu beeinflussende Schwiegertochter denn auch gehörigen Eindruck macht. Abermals haben wir einen künstlerisch / kunsttheoretisch ungeheuer reifen und versierten Ich-Erzähler, der in Sachen Liebe (körperlich wie seelisch) – man ist versucht zu sagen: im Säuglings-Stadium – stecken geblieben ist. Auch eines der Rätsel der Suche nach der verlorenen Zeit.

Rätsel über Rätsel also – was nicht heißt, dass ich die erste Hälfte von Sodom und Gomorrha nicht mit viel Vergnügen gelesen hätte.

1 Reply to “Marcel Proust: À la recherche du temps perdu IV. Sodome et Gomorrhe (1) [Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. S. u. G.]”

  1. Was auffiel, war auch, daß Marcel alles in allem ein netter Kerl war, ein guter, liebevoller Mensch, aber er sich in der Beziehung zu Albertine ganz anders aufführt. Da trat immer eine Diskrepanz zwischen dem eigenen Bild, daß Marcel von sich hat / der Erzähler von Marcel hat, sozusagen wie sich Marcel selbst sieht, und wie dann erzählt wird, was er mit Albertine tut (oder wenn Albertine für seinen damaligen Chauffeur steht, was ja überall vermutet wird, wie Marcel Proust dann anscheinend mit diesem umging). Ich dachte mir dann immer, daß Marcel hier ehrlich über sich selbst ist, weil er diese Seite an sich nicht mag, auch wenn er sie nicht unterdrücken kann.

    Allerdings gibt es in diesem Buch nur wenige unschuldige Liebesbeziehungen, oder? Insbesondere Baron de Charlus und sein ehemaliger Lover tun sich wirklich viel Böses an, wenn ich mich richtig erinnere. Unschuldig ist die Liebe in Prousts Buch nur ganz am Anfang, solange sie noch nicht konsumiert wurde: so bei Swann/Odette, Marcel und seiner Jugendliebe usw.

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