Thomas Halliday: Urwelten

Gemälde verschiedener blühender Orchideen vor einem grünen Hintergrund aus Blättern. - Ausschnitt aus dem Buchcover. Das ganze Cover stellt einen riesigen urzeitlichen Urwald dar.

Zeitreisen kennen wir alle aus diversen Science Fiction-Geschichten. Menschen reisen in die Zukunft (seltener in die Vergangenheit, weil nur die Zukunft auch die Möglichkeit bietet, eine bessere oder gar ideale Gesellschaft vorzustellen, die so genannte Utopie) und erleben dort die tollsten Abenteuer. Relativ selten kommen Menschen aus der Zukunft zu uns, oder gar Aliens – das Potenzial für Abenteuer ist da geringer. Menschen, die aus der Vergangenheit zu uns kommen, sind meist Stoff für Abenteuer der komischen Art.

Eine Zeitreise haben wir auch hier vor uns, aber eine der besonderen Sorte. Es handelt sich im Grunde genommen um Science Fiction im eigentlichen Sinn des Worts: Um in Geschichte(n) verpackte Wissenschaft. Halliday ist ein junger (Jahrgang 1989) englischer Paläontologe und Evolutionsbiologe. In diesem Buch stellt er auf rund 450 Seiten die Entwicklung des Lebens auf der Erde vor. Schon das allererste Kapitel hat mich an eine Serie der BBC erinnert, die vor etlichen Jahren im Fernsehen lief, Walking with Dinosaurs. Die Sendung entstand 1999, war aber in ihrer Verwendung von Computer-generierten Bildern und Animatronics ihrer Zeit weit voraus. Ganz im Stil klassischer Tierfilme wurden hier die Dinosaurier in ihrem Habitat gezeigt, wobei eine Stimme aus dem Off jeweils weitere Erklärungen zu den Bildern abgab. Etwas ganz Ähnliches macht nun Halliday in seinem Buch – den Medienbruch abgerechnet, natürlich.

Denn Halliday hat nur Worte zur Verfügung. Und so beschreibt er (zum Beispiel) mit Worten einen frühen Morgen im Pleistozän, an einem Ort, der heute in Alaska liegt. Wo bei der BBC-Serie die Sacherklärungen aus parallel zu den Bildern aus dem Off kamen, wird Halliday immer wieder ausscheren und Erklärungen nachliefern nicht nur zu den gerade vorgestellten Gestalten, sondern auch zur Evolution im Allgemeinen, zur Vor- und Nachgeschichte desjenigen Erdzeitalters, in dem wir uns gerade befinden, ja auch generell zu den Problemen der Überlieferung von Fossilien, zu Problemen der Paläontologie im Allgemeinen und im Speziellen also. Er nimmt dabei explizit den Begriff einer Zeitreise beim Wort: So, wie wir, wenn wir eine Reise unternehmen, von zu Hause aus starten, um aus noch bekannten in immer fremdere Gegenden zu gelangen, so nimmt er uns rückwärts auf die Zeitreise mit. Will sagen: Er beginnt beim uns noch relativ nahe liegenden Pleistozän, um dann Schritt für Schritt zurück zu gehen. (Wen es interessiert: ins Pliozän, Miozän, Oligozän, Eozän, Paläozän, die Frühe Kreide, Jura, Trias, Perm, Karbon, Devon, Silur, Ordovizium, Kambrium, bis wir schlussendlich im Ediacarium enden, wo „das Leben“ gerade mal die ersten Mehrzeller zu bilden begonnen hatte.) Das hat für einen unbedarften Leser wie mich den Nachteil, dass er in jeder Epoche eine vorhergehende annehmen muss, die mir eigentlich (noch) gar nicht bekannt ist. Im Grunde genommen müsste man dieses Buch einmal von vorne nach hinten und dann gleich noch einmal von hinten nach vorn lesen. Spannend und interessant genug ist es ja. Im Übrigen reist Halliday nicht nur in der Zeit, sondern auch im Ort. Für jedes Erdzeitalter sucht er eine besonders ergiebige paläontologische Stätte auf – und die sind um die ganze Welt verteilt: Alaska, Kenia, Italien, Chile, Antarktis, USA, China, Deutschland, Kirgisistan, Niger, Schottland, Russland, Südafrika und Australien.

Einen totalen Medienbruch im Verhältnis zur BBC-Serie finden wir übrigens dann doch nicht. Noch vor jedem Kapitel steht eine Zeichnung von Beth Zaiken (ihr Name wird zumindest in meiner Ausgabe nur in der Danksagung des Autors aufgeführt, was ich für ein Buch der Büchergilde etwas beschämend finde – auch wenn es nur eine Lizenzausgabe eines anderen Verlags ist), … eine Zeichnung also, auf der eine Szene oder ein Lebewesen so exakt wie möglich (ergänze: nach aktuellem Erkenntnisstand) wiedergegeben ist. Ebenfalls ist jedem Kapitel eine Landkarte voran gestellt, die die Position der jeweiligen Kontinente skizziert, und auf der der Fundort und eventuelle weitere geografische Anhaltspunkte angegeben sind, so, dass das heutige Publikum zumindest eine Ahnung davon erhält, wie sehr die Kontinente sich verändert haben in den rund 600 Millionen Jahren, die das Buch vorstellt. Dass ich weiß, dass es 600 Millionen Jahre sind, verdanke ich einer dem eigentlichen Text voran gestellten Zeittabelle, in der alle relevanten Äonen, Ären, Perioden, Epochen mit ihrem Alter aufgeführt sind.

Das Buch ist, wie gesagt, lehrreich, spannend und unterhaltsam. Wer Genaueres wissen will, ist mit Anmerkungen (d.i.: Quellenangaben) reich ausgestattet und kann sich weiter informieren. Das für solche Bücher unumgängliche Register fehlt genau so wenig.

Besonderes Augenmerk möchte ich aber noch auf das abschließende Kapitel legen, den Epilog Eine Stadt mit Namen Hoffnung. Hier geht es Halliday um die Konsequenzen, die das bereits in vollem Gang befindliche sechste Massenaussterben im Phanerozooikum (jenes Teils der Erdgeschichte, der ein „Leben“ kennt) nach sich ziehen wird – das erste Massenaussterben, das von einer biologischen Art direkt herbei geführt wird. Selbst wenn es uns gelingt, die Klimaerwärmung noch zu stoppen: Viele Arten sind bereits vernichtet (auch aus anderen Gründen – wohin der Mensch auch immer gekommen ist, hat er Tiere ausgerottet – und dies nicht erst im 20. und 21. Jahrhundert) oder haben sich in andere Gegenden zurück gezogen (wo sie dann ihrerseits andere Arten verdrängen). Der Prozess ist im Prinzip natürlich und hat im Verlauf der Erdgeschichte schon fünf Mal stattgefunden. Aber – und das hat Halliday in den vorausgehenden 16 Kapiteln immer wieder klar gestellt: Nach jedem Massenaussterben haben sich Flora und Fauna beim „Wiederaufbau“ massiv geändert. Uns am bekanntesten ist wohl das völlige Verschwinden der Landsaurier und das Vordringen der Säuger. Das heißt: Das „Leben“ (das ich hier immer mal wieder personalisiere, ganz einfach, weil es grammatikalisch am einfachsten ist, wie es auch Halliday hin und wieder tut – aber weder er noch ich verstehen unter „Leben“ oder unter „Evolution“ eine Person oder auch nur eine zielgerichtete Kraft) … „das Leben“ also hat sich bisher noch jedes Mal wieder aufgerappelt und die Erde erneut gefüllt. Die Chance, dass es „das Leben“ also auch beim sechsten Mal schafft, ist groß. Der Mensch seinerseits ist eine ungeheuer anpassungsfähige Art. Nur er hat es bisher geschafft, alle Kontinente (inklusive der Antarktis) dauerhaft zu besiedeln. Doch das ist keine Garantie dafür, dass er das von ihm selber in Gang gesetzte Massenaussterben überleben wird. Vielleicht wäre es für „das Leben“ besser, wenn er es nicht täte, aber so weit geht Halliday nicht. Er wünscht und hofft, dass wir die Kurve noch kriegen.

Eine faszinierend geschriebene Erdgeschichte, mit einem Epilog, den man nicht nur lesen, sondern auch beherzigen sollte.


Thomas Halliday: Urwelten. Eine Reise durch die ausgestorbenen Ökosysteme der Erdgeschichte. [Übersetzt von Hannes Köber und illustriert von Beth Zaiken.] Frankfurt/M, Wien, Zürich: Büchergilde, 2023. Auf Deutsch zuerst erschienen im Carl Hanser Verlag, 2022. Englische Originalausgabe: Otherlands. A World in the Making. London: Allan Lane, 2022. (Man beachte den viel poetischeren und ‚gewagteren‘ Titel des englischen Originals! Man will im deutschen Sprachraum wohl das Publikum absichtlich von guten, wissenschaftlich fundierten Sachbüchern fernhalten …)

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