Ob nun Albert Bitzius den Schriftsteller mehr beeinflusste oder Jeremias Gotthelf den Pfarrer, bleibe dahin gestellt. Tatsache ist, dass Jeremias Gotthelf eigentlich immer Parabeln verfasste des Inhalts, dass nur ein gottgefälliges Leben auch Glück und Segen bringe – und dies auch im materiellen Sinn. Ein lasterhaftes Leben (was auch schon den Genuss von zu viel Alkohol (Branntwein!), vor allem bei Frauen, bedeuten konnte, oder Geiz gegenüber Bedürftigen und der Kirche) führt bei ihm unwiederbringlich auch zu einem materiellen Ruin.
Dies ist sicher einer der Gründe, warum Gotthelf heute nur noch selten gelesen wird. Ein anderer ist wohl die Meinung, Gotthelf sei ein genuin Schweizer Autor, der nur für die Schweiz geschrieben habe – ein Heimatdichter bzw. sogar ein «bodenständige[r] Bauerndichter», wie es auf der Homepage des Gotthelf Zentrums heißt. Nun finden sich in seinem Werk, seiner Sprache, tatsächlich immer wieder einmal Ausdrücke aus dem (Emmentaler) Dialekt, aber Gotthelf bedient sich ihrer recht sparsam und nur des Lokalkolorits wegen. Die meisten seiner Romane wurden – das darf nicht außer Acht gelassen werden – bei Julius Springer in Berlin veröffentlicht, waren also durchaus fürs gesamte deutschsprachige Publikum gedacht. Mit einem Glossar im Anhang können sie auch heute noch im gesamten deutschsprachigen Raum verstanden werden. Dass Jeremias Gotthelf heute als rein schweizerischer Autor gilt, verdankt er den Verfilmungen durch Franz Schnyder in den 1950er Jahren. Gotthelf wurde dafür ins Berndeutsche übersetzt (und auch Schauspieler:innen, die von Haus aus einen ganz anderen Dialekt sprachen, mussten sich Berndeutsch aneignen). Die Filme verkürzen tatsächlich das Gotthelf-Bild auf eine im Grunde genommen unzulässige Art und Weise. (Allerdings wenn dann auf der oben genannten Internet-Seite fortgefahren wird mit So entsteht das einseitige Bild eines Mundart-Schriftstellers, der in Berndeutsch das Hohelied des Emmentaler Bauern singt – was jedoch den Tiefen und ewigen Wahrheiten des Werks nicht gerecht wird., dann ist vor allem der Schlussteil dieses Satzes auch nicht geeignet, heute noch ein größeres Publikum anzuziehen, fürchte ich. Außerdem verzerrt dieser Satz seinerseits das Gotthelf-Bild.)
Denn – jenseits seines sehr artikulierten Christentums, seines konservativen Denkens – handelt es sich bei Gotthelf um einen der besten Romanciers des Realismus weltweit. (Nebenbei: Wir finden auch bei Tolstoi und Dostojewski sehr viel Christliches, dazu noch deutlich mehr mystifiziertes als beim simplen, protestantischen Glauben des Pfarrers Bitzius / Gotthelf, und dennoch hindert das kaum jemand daran, die beiden Russen fleißig zu zitieren und zu loben. Mir persönlich sind sie auf Grund ihrer mystischen Tendenzen bedeutend weniger sympathisch als der hier tatsächlich als bodenständig zu bezeichnende Berner.) Gotthelf gelingt es nicht nur eine Sprachmelodie zu bilden, die – ähnlich wie die Wielands – schon fast lyrisch klingt; seine Geschichten wirken bei aller Melodik wie aus großzügig behauenen Steinen verfertigte Sprachgebäude. (Zugegeben: Bei manchen seiner Romane – vor allem, wenn es sich um Auftragsarbeiten handelte – tendierte Gotthelf dazu, vom Hundertsten ins Tausendste zu geraten; hierin gleicht er dem ansonsten so unähnlichen Jean Paul.)
Die schwarze Spinne nun, um noch etwas zu dieser Novelle zu sagen, ist eine auch architektonisch perfekt gestaltete Geschichte. Wir finden eine Rahmengeschichte (die Taufe des jüngsten Sprosses einer ansehnlichen Bauernfamilie in der Nähe von Lützelflüh), wo unter den Feierlichkeiten, beim Taufessen, die Rede auf ein merkwürdiges altes Stück Holz kommt, das sich in einem der Fensterrahmen des Bauernhauses findet. Darauf erzählt der Großvater der Familie, wie vor Hunderten von Jahren in seiner Familie (durch eine eingeheiratete Frau aus Lindau!) Geiz und Egoismus eingezogen waren, der schließlich gar den Teufel in Form eines grün gekleideten Jägers auf den Plan rief. Der versprach, der Dorfbevölkerung gegen ihren Lehensherren zu helfen. Als Lohn verlangte er ein ungetauftes Neugeborenes. Da die Gottlosigkeit nicht nur in dieser Familie sondern im ganzen Dorf mehr und mehr überhand genommen hatte, war man damit einverstanden. Gotthelf verknüpft so geschickt eine alte Volkssage (oder was eine sein könnte) mit der christlichen Botschaft, die die Novelle überbringen sollte. Die schwarze Spinne, die plötzlich auftaucht, als der Teufel betrogen wird, ist ein Symbol nicht nur eben dieses Herrn, sondern als Krankheit, die Mensch und Tier erfasst, auch der Pest des Mittelalters. Es gelingt letztlich einem frommen Familienmitglied, die schwarze Spinne in ein Stück Holz zu bannen. Das Tauffest wird wieder aufgenommen, aber dann zeigt es sich, dass die Geschichte noch nicht zu Ende ist. Der Großvater erzählt noch den zweiten Teil, wie ein paar Hundert Jahre später die Gottlosigkeit in der Familie abermals überhand genommen hat, die schwarze Spinne in einem Anfall von Hybris befreit wurde und wieder im Dorf wütete, bis sie abermals durch ein gottesfürchtiges Mitglied besiegt wurde. Und abermals hat nicht nur in der Familie sondern auch im ganzen Dorf der Wohlstand wieder zugenommen. Es wird vom Großvater denn auch suggeriert, dass dieser Wohlstand bleiben wird, so lange die Gottesfürchtigkeit in diesem Tal anhält.
Diese ganze Zusammenfassung wirkt nun sehr protestantisch, weil sie nur die Grundzüge und die Kernbotschaft der Novelle enthält. Gotthelfs Erzählkraft kann und will sie nicht wiedergeben. Aber man glaube mir: Romantische Schauerromane oder auch ein Stephen King vermögen den Horror nicht besser zu gestalten als Gotthelf in seiner an alten Sagen orientierten Sprache.
Nicht wegen seiner christlichen Botschaft, aber wegen seiner literarischen Qualitäten: Man sollte wieder mehr Gotthelf lesen.