Wenige Tage vor dem Konzert erhielten wir ein E-Mail des Inhalts, dass der Stargast des heutigen Abends, Sir András Schiff, wegen Krankheit absagen musste, das Programm aber dennoch eingehalten werden könne, weil man Ersatz für Schiff gefunden habe – zwei Personen sogar, denn Schiff wollte an diesem Abend sowohl als Dirigent wie als Solo-Pianist auftreten. Nun wurde die Aufgabe aufgeteilt: Es dirigierte die Estin Anu Tali, am Flügel saß Anton Gerzenberg. Es ist schwierig, mit etwas zu vergleichen, das man nicht gehört hat, weil es nicht stattgefunden hat. Ich kann also nicht sagen, wie weit die beiden der Einstudierung noch eigene Akzente aufdrücken konnten. Aber ich kann feststellen, dass die Aufführung auf jeden Fall gelang. Mit Frauen am Pult habe ich sowieso bisher nur gute Erfahrungen gesammelt. Tali lieferte ebenfalls eine ausgezeichnete Performance ab. Vor allem gehört sie zu den Dirigentinnen, die auch in den Tutti-Momenten nicht noch zusätzlich die Lautstärke des Orchesters forcieren, so dass es möglich war, auch die eher leisen Instrumente wahrzunehmen. Ich mag das sehr. (Womit ich gleichzeitig gesagt haben will, dass auch das Orchester trotz der Umstellung perfekt harmonierte.)
Gerzenberg wiederum war für mich der Mann des Abends. Ich weiß nicht, wie gut Schiff ist, aber Gerzenberg war nachgerade perfekt. Präzise, leichte Anschläge, selbst in den Forte-Passagen nie in Versuchung, ein Schludern mit Pedal zu überdecken – ganz einfach, weil ihn seine Präzision auch bei Zweiunddreißigstelnoten nicht verließ und er also auch kein Schludern zu verdecken hatte. Dabei stellte er keineswegs sein Spiel in den Vordergrund sondern die Komposition.
Womit wir beim Komponisten sind: Felix Mendelssohn Bartholdy. Es war heute das erste meiner Abonnements-Konzerte, das sich einem einzigen Komponisten widmete, dazu noch einem Romantiker. (Vielleicht war das Alter der Kompositionen der Grund, warum mir schien, dass auch das Alter des Publikums höher war als die beiden letzten Male. Und so viele ältere Personen mit Gehhilfe oder gar im Rollstuhl wie heute waren meiner Meinung bisher auch nicht dabei.)
Die Ouvertüre zu „Die Hebriden“ ist ein imposantes Stück musikalischer Naturschilderung. Mendelssohn muss dabei auf Erlebnisse bei seiner ersten Schottland-Reise zurückgegriffen haben, so zum Beispiel einen Besuch der so genannten „Fingals-Höhle“, benannt nach dem fiktiven Sänger der Lieder des Ossian. Ob Mendelssohn tatsächlich auf den Ossian Bezug genommen hat, ist bis heute ungeklärt. Ich für meinen Teil bezweifle das, weil in den 1830er Jahren, der Entstehungszeit der „Hebriden“, das Ossian-Fieber nicht nur in Deutschland doch schon sehr abgeklungen war, nachdem endgültig feststand, dass das ganze vermeintlich gälische Epos eine Erfindung von James Macpherson war.
Dann das Klavierkonzert. Gewidmet der Pianistin Delphine von Schauroth, die nicht nur Mendelssohns Schwarm war sondern eine sehr begabte Pianistin, die auch Schumann „ausgezeichnet“ fand. Das Klavierkonzert bringt nicht nur jede Menge an Passagen, die dem Pianisten erlauben zu glänzen, es ist auch eines der wenigen mir präsenten Klavierkonzerte, die bei allem Herausstellen des Solo-Instruments doch das Orchester nicht vergessen. Hier haben wir wirklich Solo-Instrument und Orchester als zwei gleichwertige Partner, die zwanglos miteinander kommunizieren. (Wobei sich hierin auch Talis Können bemerkbar machte, die das Orchester immer ‚durchsichtig‘ hielt, so dass man jederzeit jedem Instrument zu folgen vermochte.) Zu diesem ‚durchsichtigen‘ Orchester passte die Präzision und Leichtigkeit, mit der Gerzenberg spielte, perfekt. Er erhielt denn auch lang anhaltenden Applaus und durfte / musste gar noch ein kleines Da Capo spielen, ein Capriccio, bei dem ich nicht verstanden habe, wer es komponierte.
Nach der Pause dann noch einmal zurück nach Schottland. Jedenfalls geht man davon aus, dass Mendelssohn die Inspiration zu seiner dritten Symphonie bei seiner Schottland-Reise 1829 fand. Bei mir erweckt diese Komposition jedes Mal den Eindruck, Mendelssohn habe zunächst eine eigene Version der „Vier Jahreszeiten“ schreiben wollen, mit äußerst aufgeregtem Wetter im ersten Satz, einer sommerlichen Ruhe im zweiten und herbstlichem Allerlei im dritten, um dann im vierten aber nicht den Winter darzustellen, sondern einen leichten, nicht einer bestimmten Jahreszeit zuordbaren Ton anzuschlagen.
Trotz (oder gerade wegen!) des Ersatzes des vorgesehenen Stars ein rundum gelungener Abend. Ich hoffe, beide, Tali und Gerzenberg, wieder einmal hören zu können – Gerzenberg vor allem.