In Italien und auch in den übrigen Ländern, deren Muttersprache eine Tochter des Latein ist, gilt Torquato Tassos La Gerusalemme liberata als Klassiker der Weltliteratur. Als solcher gilt das Epos zwar auch im deutschen Sprachraum – zumindest in der Theorie. In der Praxis ist es wieder einmal so, dass keine (neuere oder ältere) Übersetzung im Buchhandel erhältlich ist. Zumindest habe ich keine gefunden. (Ich musste mich allerdings bei den Lusiaden belehren lassen, dass doch noch eine Übersetzung im Buchhandel existiert, die ich für vergriffen hielt, weil ich sie nicht gefunden hatte.) Ich fürchte auch, nebenbei gesagt, dass Goethes Drama über den Dichter hierzulande dem Werk des Dichters in Bezug auf den Bekanntheitsgrad den Rang abgelaufen hat.
Ich kann die Zurückhaltung gegenüber La Gerusalemme liberata sogar nachvollziehen. Tassos Epos ist in vieler Hinsicht überaus seltsam geraten. Da ist die Führung der Geschichte, die eben keine ist. Wie sein Vorbild Ariost im Orlando Furioso schwenkt Tasso von Protagonist zu Protagonist und mischt in das, was eigentlich die Geschichte des ersten Kreuzzugs hätte sein sollen, auch Zauberwesen und Liebesgeschichten. Er übernimmt von Ariost nicht nur die Figur des christlichen Streiters gegen die Muslime, Rinaldo; er gestaltet nach Ariost (und nach Homers Circe) auch eine Magierin, die einen anderen Helden, Tankred, derart verzückt, dass er das Kämpfen ausgerechnet in dem Moment vergisst, wo der christliche Heerführer Gottfried von Bouillon jede Hand brauchen könnte. Erst als sich zwei Freunde von Tankred aufmachen, den Helden aus der Gewalt der Magierin zu befreien (unter kundiger Führung eines Heiligen), ihn finden und ihm in einem diamantenen Schild sein Spiegelbild zeigen, erkennt Tankred, wie verweichlicht er kurzer Zeit geworden ist – körperlich wie geistig völlig außer Form. Ich kann nicht sagen, woher Tasso dieses Motiv der Verweichlichung hat, ob er dessen literarische Geschichte kennt, aber hier greift er zurück auf eine Todsünde des christlichen Ritters, wie sie zum Beispiel in mittelalterlichen Epen aus dem Sagenkreis des König Artus bekannt ist: das ‚Verligen‘, wie es bei Hartmann oder Wolfram heißt – neuhochdeutsch das „Verliegen“. Will sagen: wenn man es also lieber bequem und schön haben will, statt Gottes Befehlen nachzukommen. Wie sich dieses Motiv in die italienische Renaissancezeit gerettet hat, weiß ich nicht.
Tassos Schlachtenszenen sind einigermaßen blutig und brutal geraten – man möchte bei ihrer Lektüre zum Pazifisten werden, wenn man es nicht schon wäre. Und Schlachtszenen werden immer wieder eingefügt, ob sie nun in der Realität stattgefunden haben oder nicht.
Was Torquato Tasso, der in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts lebte, dazu bewogen hat, ein Epos über die Eroberung Jerusalems durch Gottfried von Bouillon zu schreiben, weiß ich ebenfalls nicht zu sagen. Einen solchen Stoff hätten wir (wie das ‚Verligen‘) eher im Mittelalter erwartet. Vielleicht war es eine Art Bewerbungsschreiben für sein Amt als Historiograph am Hof von Herzog Alfonso II. von Ferrara – auch einem Este wie der Dienstherr des Ariosto. Die deutschsprachige Wikipedia verortet Tasso explizit in der Zeit der Gegenreformation, aber sein Epos hat nichts Gegenreformatorisches. Zwar werden – nicht sehr positiv – die Griechen einmal genannt (also die Einwohner des oströmischen Reichs und Anhänger der griechisch-orthodoxen Kirche), aber Gottfried von Bouillons Kreuzzug richtete sich für einmal nicht gegen Byzanz. Selbst wenn es so gewesen wäre, war die Gefahr und die Ausgangslage der römisch-katholischen Kirche bei der Gegenreformation eine ganz andere. So bleibt nur die Vermutung, dass sich Tasso tatsächlich als für das Amt qualifiziert erweisen wollte, das er dann auch tatsächlich erhielt, und allgemein versucht, sich als guter Katholik profilieren.
In Zeiten des Internet ist die klassische deutsche Übersetzung von J. D. Gries problemlos umsonst abrufbar. Vor mir liegt, antiquarisch erworben, eine andere, 1834 in Berlin bei Hofmann & Comp. erschienene, übersetzt von einem gewissen Prof. Dr. Duttenhofer. Meine Suche im Netz hat keine weiteren Informationen zu diesem Mann gefunden – außer dass diese Ausgabe antiquarisch recht häufig anzutreffen ist. Ein paar flüchtige Vergleiche mit der Übersetzung von J. D. Gries zeigt zu Beginn einen etwas klobiger formulierten Einstieg (beide Übersetzungen übernehmen das Versmaß des Originals – die ottava rima, zu Deutsch: Stanze), dann wird Duttenhofers Sprache aber glatter – ich halte beide Übersetzungen für brauchbar.
Alles in allem ein sehr seltsames Ding – Tasso erweist sich als würdiger Nachfolger Ariosts.
Es gibt doch auch eine neue Übersetzung von Ihrem Landsmann Emil Staiger. Die kenne ich allerdings nur vom Titel her, wie ich überhaupt in romanischen Sprachen außer Französisch wenig belesen bin. In einem Leben kann man eben nicht alles lesen.
Die gibt es, aber offenbar nur in der Ausgabe der „Werke und Briefe. Übersetzt und eingeleitet von Emil Staiger, München 1978 in Winkler Dünndruck-Bibliothek der Weltliteratur“. Und die ist neu zumindest bei der Buchhandlung meines Vertrauens nicht mehr erhältlich.