Von Oscar Wilde zirkulierte schon vor den Zeiten des Internet eine Menge an Bonmots und Sentenzen. Seine witzigen Beschreibungen der Haute Volée im viktorianischen England brachte ihm rasch großen Ruhm ein. Vor allem in seinen Komödien kratzte er gehörig an der glatt polierten Oberfläche der besseren Gesellschaft. Allerdings beeilte er sich auch jedes Mal, mit einem Happy Ending zumindest oberflächlich die beigebrachten Kratzer wieder auszuspachteln und frisch zu streichen. Seinen scharfen Blick auf die Defizite der viktorianischen Gesellschaft verdankte er wohl seinem doppelten Außenseitertum – als Ire einerseits, als Homosexueller andererseits. Auch heute noch amüsiert die Lektüre seiner Dramen, allerdings ohne tieferes Mitgefühl zu erregen.
Literarisch von Gewicht ist wohl nur sein einziger Roman, Das Bildnis des Dorian Gray. Auch darin kratzt er am Glanz der englischen High Society, aber dieses Mal ist es mit einem Unterton der Angst, des Grauens und des Horror. Dorian Gray mit seiner immer schönen Fassade ist nicht nur das Symbol dieser Gesellschaft, die hinter den Kulissen völlig wüst und dekadent ist – er ist auch Wildes Versuch, das Leben eines Homosexuellen in einer Zeit darzustellen, die ihn dazu nötigte, seine Sexualität im Verborgenen auszuleben, weil diese als „Unzucht“ mit schweren Strafen bedroht war.
1885 wurde diese Bestrafung noch einmal mit einem neuen Gesetz verschärft – 1895 fiel ihm Oscar Wilde zum Opfer. Die Geschichte seiner Beziehung zum jungen Adligen Lord Alfred Bruce Douglas wurde bekannt. Daran waren Wilde und Douglas selber nicht unschuldig, zu oft hatten sie sich öffentlich gezeigt (und auch gestritten), zu oft auch versucht, Douglas’ Vater strafrechtlich zu verfolgen. So oft in der Tat, dass dieser gegen Wilde zurückschlug. Wilde wurde zu zwei Jahren Haft mit Schwerstarbeit verurteilt.
Gegen Ende seiner Haftzeit, unter einem neuen Direktor im Gefängnis von Reading, durfte Wilde dann an Stelle der Arbeit einen Brief an Bosie (wie Lord Alfred in der Familie genannt wurde) schreiben. Er durfte ihn nicht abschicken, durfte zwar täglich fort schreiben, musste aber die Blätter abends abgeben. Man händigte sie ihm, zusammen mit den Briefen seiner Freunde, die er nicht erhalten durfte, bei seinem Austritt aus. Ob Bosie den Brief je erhalten hat, ist unklar. Er bestritt später, ihn gekriegt zu haben, nachdem er ursprünglich behauptete, ihn verbrannt zu haben. Falls ihm von Wildes Freund (früherem Geliebten und späteren literarischen Nachlassverwalter) Robert Ross etwas gesendet wurde, müsste es eine Abschrift gewesen sein, weil sich das Original, auf Gefängnispapier geschrieben, erhalten hat. Zum ersten Mal publiziert – in ausgewählten Ausschnitten – wurde der Text 1905 von eben diesem Robert Ross, fünf Jahre nach Oscar Wildes Tod. In Gänze erschien dann der Text erst 1966. Der Titel, De Profundis stammt von Ross und bezieht sich auf Psalm 130: Aus den Tiefen rufe ich, HERR, zu dir […]. Denn seinen moralischen Tiefpunkt hatte Oscar Wilde tatsächlich erreicht – wenn wir mit ‚Moral‘ seine persönliche Befindlichkeit bezeichnen wollen.
Der Brief besteht, grob gesagt, aus zwei Teilen. Zunächst schildert Wilde die Beziehung zu Bosie aus seiner Sicht. Er zeichnet dabei ein Bild des Geliebten als eines selbstbezogenen Egoisten – heute würde man wohl von einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung sprechen. (Wobei solche Diagnosen ex post, bei Unbekannten und dann noch von einem Laien gestellt, natürlich Unsinn sind.) Sich selber bezichtigt er vor allem zu großer Schwäche und Nachgiebigkeit Bosie gegenüber. Es ist das prototypische Bild einer toxischen Beziehung, das Wilde zeichnet. Als solches aber ist es, seien wir ehrlich, allenfalls für Psychotherapeut:innen und Biograf:innen Wildes interessant.
Was den Text bis heute interessant macht, ist der zweite Teil. Darin denkt Wilde über die Beschaffenheit von Dichtung und Dichter, von Kunst und Künstler im Allgemeinen nach. Er entwirft hier eine ganz eigene Kunsttheorie. Schon von jeher, setzt er autobiografisch ein, habe er in symbolischer Beziehung zur Kunst und Kultur seiner Zeit gestanden. Nun habe ihn sein Leiden mit Sorgen und Kummer bekannt gemacht und damit – impliziert er – als Künstler vollendet. Er illustriert seinen Gedanken mit zwei Vorbildern oder Vorläufern: Franz von Assisi und – vor allem und zuerst – Jesus von Nazareth. Es ist ein sehr romantischer Jesus, den er da vor uns stellt, der Jesus des Johannes-Evangeliums und (wie er selber zugibt) gewisser Gnostiker. Die Kunst übernimmt so für Wilde die Funktion der Religion. In der Kunst findet der Mensch Erfüllung oder auch Trost – im passiven Betrachten die meisten, in aktiver Kreation (was das höchste Ideal repräsentiert) ein paar wenige.
Es ist oft sehr großsprecherisch und selbstgerecht, was Wilde hier vorbringt. Seine außerordentliche Lebenssituation mag dies entschuldigen. Er wurde vor und während der Haft geistig wie körperlich erniedrigt und war bei seinem Austritt sowohl mittel- wie heimatlos. Der Kontakt mit seinem Sohn war ihm untersagt; seine Mutter war während der Haftzeit gestorben; seine wertvollen Bücher unter Wert verkauft. Wenn er sich, zumindest manchmal, dennoch eine große Zukunft ausmalte, ist das sicher verständlich. Tatsächlich aber war er geistig und körperlich so gebrochen, dass er in den zwei Jahren, die ihm nach der Entlassung noch blieben, nichts mehr von Belang schreiben konnte.