Nachdem ich bei meinem letzten Konzertbesuch – ein ganzer Abend nur Mendelssohn – den Eindruck hatte, dass dieses Mal viel mehr Publikum anwesend war als sonst und dieses auch älter als üblich, viele mit Gehhilfen oder gar im Rollstuhl, wollte ich meinen Eindruck heute überprüfen. Ich kann natürlich nicht Anspruch auf wissenschaftliche Genauigkeit erheben – aber, ja: Das Publikum war heute wieder jünger (ich habe sogar Kinder gesehen) – und es waren weniger Leute da als letztes Mal, wo der Saal doch recht gefüllt war.
Nun, „les absents ont toujours tort“, das gilt auch für heute. Aber der Reihe nach.
Zunächst bestellte ich mir wieder das übliche Einstimmungsgetränk – heute wieder ein Bier, da ich trotz des relativ warmen Wetters draußen so gar keine Lust auf den eiskalten Wein des Konzert-Caterings verspürte. Es war ein Bier jener Marke, die vor zehn oder fünfzehn Jahren noch der Geheimtipp der lokalen In-People war (ich kannte es schon vor ihnen), sich dann aber rasant im ganzen Land verbreitete. Heute steht die Firma kurz vor dem Aus, weil sie zu schnell und mit zu viel fremdem Geld gewachsen ist. In den Zeiten, als man noch Geld dafür bekam, wenn man bei einer Bank Geld auslieh, war das kein Problem, aber heute verlangen die Banken schon wieder happige Zinsen. (Während sie den kleinen Sparenden nach wie vor lausige auszahlen.) Nun hofft diese Marke auf eine Rettung ausgerechnet durch jene Firma, die sie seinerzeit vom Thron der angesagten Marke verstoßen hat. Nicht nur Bücher haben ein Schicksal … So oder so hatte ich mich schon länger von diesem Bier getrennt; seit es überall erhältlich war, war es auch – so will es mir zumindest scheinen – nicht mehr dasselbe. Der Geschmack war anders, etwas weniger bitter, mehr an die 08/15-Biere erinnernd, die zu Zeiten des Bierkartells die einzig in der Schweiz erhältlichen waren. (Man nennt so etwas, glaube ich, „Stream-Lining“.) Dass mein Lieblings-Restaurant gerade erst Anfang dieses Jahrs von einer kleinen, lokalen Brauerei auf eben diese Marke umgestellt hat, wird die Betreibenden vielleicht nun auch reuen.
Aber eigentlich war ich ja heute da für die Musik. Der Titel des Aperçu listet das Programm schon auf, hier noch einige Bemerkungen dazu:
Zunächst das Orchester. In den vier Konzerten meines Abonnements habe ich nun bereits drei Personen auf dem Stuhl des Konzertmeisters gesehen – heute zum ersten Mal eine Frau. Das Zusammenspiel mit dem Dirigenten (Jan Willem De Vriend) funktionierte auch dieses Mal bestens; das Orchester war wieder ausgezeichneter Spiellaune. (Dazu noch eine Bemerkung weiter unten.)
Haydn
Die Sinfonie Nr. 104 ist Haydns letzte, komponiert im Rahmen von Haydns zweiter (und ebenfalls letzter) Londoner Reise. Einsetzend mit einem Donnerschlag (Pauke und Blech) packt sie die Zuhörenden auf der Stelle. Einen besseren Einstieg in einen Konzertabend kann man kaum finden. Ich mag Haydn, auch wenn ich nichts zu ihm sagen könnte, das nicht schon irgendwer irgendwo gesagt hat – deshalb gehe ich weiter.
David
Ferdinand David (1810-1873) war von Haus aus Solobratschist, machte sich aber einen Namen als Posaunenvirtuose. (Robert Schumann nannte ihn den „Posaunengott“.) Das heute gespielte Stück ist in seiner Tonart (Es-Dur) natürlich ideal für Posaune und der hinzu gezogene Star-Posaunist Jörgen van Rijen (eigentlich vom Concertgebouworkest Amsterdam) spielte mit Bravour und – was mich bei diesem Instrument immer am meisten fasziniert – fehlerfrei. Allerdings muss ich auch gestehen, dass ich von allem Blech die Posaune am wenigsten mag, weshalb denn auch der Eindruck von Davids Stück für mich der schwächste war. Dafür kann David nichts, kann van Rijen nichts, kann ich nichts.
Pause
Die Pausenbar im ersten Stock hatte Verspätung und dann noch den Flaschenöffner vergessen; ich kam aber trotzdem noch zu meinem zweiten Bier (immer noch dieselbe Marke) und es blieb noch genügend Zeit, einen zweiten Blick aufs Publikum zu werfen, der meinen ersten Eindruck bestätigte.
Pärt
Der Waschzettel des heutigen Abends meint, Arvo Pärt gelte als einer der bedeutendsten Vertreter der Neuen Musik, eine Bemerkung, die bei mir natürlich mehr Fragen aufwirft als sie beantwortet. Die Wikipedia-Definition zur Neuen Musik meint lapidar: Sammelbegriff für eine Fülle unterschiedlicher Strömungen der komponierten westlichen Kunstmusik von etwa 1910 bis zur Gegenwart – was auch nicht weiterhilft. Die Fortsetzung dann schon eher: Sie [die Neue Musik] ist insbesondere durch – teils radikale – Erweiterungen der klanglichen, harmonischen, melodischen, rhythmischen Mittel und Formen charakterisiert. Das erklärt immerhin den Einsatz eines in der ‚klassischen‘ klassischen Musik ansonsten abwesenden Schlagzeugs. Wobei man bei diesem Stück hier nicht das von Pop und Rock bekannte Schlagzeug-Solo erwarten darf. Der Part des Schlagzeugs bestand in einer Kombination von Pauke und Tintinabulli (Glöckchen) für einen refrainartigen an einen Stundenschlag erinnernden Einsatz. Das Ganze erinnerte mich, warum weiß ich nicht, an meine vielen Überfahrten mit Fähren im Mittelmeer, in der Nord- und der Ostsee. (Allerdings – das habe ich erst zu Hause festgestellt – ist mir unter der Musik nie in den Sinn gekommen, dass ich auch jedes Mal seekrank wurde bei diesen Überfahrten …)
Ich könnte mir vorstellen, dass vor allem die Kinder diese Art von leiser und meditativer Musik, die den Zuhörenden viel Raum für eigene Gedanken gibt, geliebt haben. Allerdings unterlief dem Dirigenten hier ein Lapsus, der ihnen ein bisschen den Spaß verdorben haben könnte: Ich weiß nicht, lagen die Partitur-Blätter zu nah beieinander – jedenfalls war er ohne Punkt und Komma plötzlich bereits in Schumanns Sinfonie. Ich verzeihe es ihm, aber ich verzeihe es auch dem Teil des Publikums, der nun – völlig irritiert – nach dem Ende des ersten Satzes der Sinfonie Applaus spendete. Ich vermute, dass der Dirigent erst in diesem Moment seinen Lapsus bemerkte. Jedenfalls wendete er sich gegen uns und erklärte, dass es halt für ihn die erste Aufführung wäre. (So habe ich ihn verstanden – er sprach sehr leise und mit starkem holländischem Akzent.) Last but not least verzeihe ich auch jenen Spaßvögeln, die dann auch nach dem zweiten Satz applaudierten. Auch der Dirigent hat sich noch einmal grinsend zum Publikum gekehrt.
Schumann
Vielleicht wollte De Vriend auch nur so schnell wie möglich zu Schumann kommen. Der jedenfalls liegt ihm eindeutig. Wie ein kleiner Flaschendämon stand die schwarz gekleidete Gestalt vor dem Orchester und winkte mit beiden Händen nach allen Seiten. De Vriend verzichtet auf einen Taktstock beim Dirigieren; das macht allerdings, dass er mich mit seinen weichen Handbewegungen von hinten und aus der Entfernung ein wenig an einen großen schwarzen Zierfisch erinnerte, der mit den Flossen wedelt.
In einem Brief an seinen Freund Mendelssohn schrieb Schumann, dass es in seinem Inneren gerade donnere und gewittere. Mendelssohn wusste, was das bedeutete: Schumann kämpfte mit einer Depression und versuchte, sich mit Komponieren daraus zu helfen. (Mendelssohn, nebenbei, war dann auch der Dirigent der Uraufführung.)
Dass sich in dieser Sinfonie zwei Stimmungen bekämpfen, ist unüberhörbar. Der erste Satz, eigentlich mit Allegro überschrieben, beginnt mit einer langsamen und feierlichen Einleitung (vielleicht war es dies, was den Dirigenten irreführte – ich habe, nebenbei, das Orchester bewundert, das ihm klaglos und sofort folgte), um dann in ein doch recht getragenes Allegro zu münden. Der vierte Satz der Sinfonie, im Gegensatz zum ersten (Sostenuto assai – Allegro ma non troppo) nunmehr ganz klar mit Allegro molto vivace überschrieben, kennzeichnet in gewissem Sinn auch die Überwindung der Depression – und stellt zugleich einen ausgezeichneten Schluss für jeden Konzertabend dar, weil die Zuhörenden nochmals mit jeder Menge Gefühl und Enthusiasmus aufgeladen werden. Lang anhaltender Schlussapplaus war der Dank für Dirigent und Orchester.
Auch ich für meinen Teil wanderte zufrieden nach Hause.