Die Ballade

Schwarze Schrift auf grauem Grund: "Ballade". - Ausschnitt aus dem Buchcover.

„Schmökern“ ist für mich eine ganz spezielle Form der Rezeption von Literatur. Ich fläze mich irgendwo hin und nehme ein Buch zur Hand. Das lese ich aber nicht systematisch von vorne nach hinten sondern blättere darin herum. Auf irgendeiner Seite werde ich dann verweilen und lesen. Nach relativ kurzer Zeit unterbreche ich oder breche ab, um entweder woanders hin zu blättern, über das Gelesene zu sinnieren oder es auch einfach auf mich einwirken zu lassen. Oder ich suche bei einer Anthologie im Inhaltsverzeichnis nach anderen Texten der gleichen Autorin bzw. zum gleichen Thema. „Schmökern“ ist also für mich etwas, das vorzugsweise bei Lyrikbänden oder -anthologien zum Zuge kommt. So, wie es zum Beispiel das vorliegende Buch eine ist.

Natürlich kann man auch solche Bücher von vorne nach hinten lesen – ich habe es ja für das vorliegende Aperçu auch getan. Aber meist verlieren diese Bücher dann an Reiz, oder sie zeigen – wie das vorliegende – große Schwächen.

Damit meine ich nicht nur die Auswahl der Schreibenden oder der Gedichte. Es ist bei einer Anthologie immer auch Geschmackssache, was ausgewählt wird bzw. werden sollte. Warum von Goethe den Erlkönig und den Totentanz? Warum nicht etwas aus dem Balladenjahr? Immerhin figuriert von Schiller aus dem Jahr 1797 Der Handschuh neben der Bürgschaft. Zum Trost findet sich dann doch auch jenes Gedicht, das gemeinhin als der Anfang der deutschen Ballade betrachtet wird: die Lenore von Gottfried August Bürger.

Denn die deutsche Ballade hat mit dem, was in anderen Sprachen / Literaturen „Ballade“ genannt wird, kaum mehr etwas gemein. Im Deutschen verstehen wir unter einer „Ballade“ eine Hybrid-Form zwischen einem Gedicht und einer Novelle. Die versifizierte Form der Erzählung einer unerhörten Begebenheit Goethes also. In seinem Vorwort aber verwässert Eckhart Nickel (der auch für einen Teil der Auswahl verantwortlich gewesen sein soll) den Begriff und holt die französische Bedeutung eines tanzbaren Lieds mit an Bord. Das erlaubt ihm und den beiden Redakteurinnen Kristin Rampelt und Corinna Huffman (eine eigentliche Herausgeberschaft wird im Impressum nicht angegeben), auch vielerlei anderes einzufügen. Das Vorgehen wirkt umso seltsamer, als dann doch nur deutschsprachige Texte aufgenommen worden sind, man sich also durchaus an der deutschen Spezialbedeutung des Wortes „Ballade“ (die Nickel ja kennt!) hätte orientieren können. Aber dann hätten halt ein paar Lieblinge von Nickel gefehlt.

Einiges der Auswahl erklärt sich aus dem Genre der Parodie – gerade vom Erlkönig existieren ja unzählige und zwei haben auch den Weg in diese Anthologie gefunden. Auch Die Leiden des jungen Werthers des gleichen Autors mussten mehrmals hinhalten. Aber wir finden andere Gedichte, die ich persönlich der Gattung Liebeslyrik zuordnen würde und nicht der Ballade. Ebenfalls zu finden sind Gesangstexte – von Opern (Brechts Moritat von Mackie Messer) oder Pop- und Punk-Songs. Vor allem bei am Schlager orientierten Texten stört dann der unumgängliche Refrain doch sehr – und, nein, man berufe sich hier nicht auf Theodor Fontanes (ebenfalls hier aufgenommenen) John Maynard. Dessen Wiederholung der Zeitangabe bis Buffalo verfolgt einen ganz anderen Zweck als der Refrain eines Schlagers. Einige der abgedruckten Bands / Autor:innen kenne ich nicht; bei anderen, zum Beispiel Falco und Konstantin Wecker, fehlt die als Teil des Kunstwerks dazu gehörende Musik halt dann doch.

Andere Texte, zum Beispiel Chamissos Der rechte Barbier, tun dem Autor bzw. der Autorin Unrecht. Nicht nur gibt es von Chamisso bedeutend bessere Gedichte (sprachlich wie inhaltlich), vor allem ist die Geschichte des Fremden, der dem Barbier droht, ihn zu erschießen, wenn er ihn beim Rasieren schneidet, eine Wanderanekdote, die zur etwa gleichen Zeit von Johann Peter Hebel bedeutend besser erzählt worden ist – in Prosa allerdings, weshalb sie nicht gut in diese Anthologie aufgenommen werden konnte, aber in der bewusst betulichen und altväterisch gemächlich gehaltenen Prosa von Hebels Kalendergeschichten, die die menschlichen Abgründe, die sich in dieser Erzählung auftun, zunächst kaschiert, bis sie dann die Lesenden erst recht treffen.

Definitiv ein Buch zum „Schmökern“ also, nicht für eine systematische Lektüre. Und das nur schon deshalb, weil das Buch mit seinen Maßen von 34½ auf 24½ cm und seinem Gewicht von 1½ kg (trotz der relativ geringen Breite von 2½ cm) sicherlich keines ist, das schnell in die Handtasche oder die Jackentasche gesteckt werden kann, um dann im Bus oder der S-Bahn auf dem Weg zur Arbeit noch ein paar Seiten weiter gelesen zu werden. Wer aber gerne „schmökert“, hier verweilt, dort sinniert oder ganz einfach nur die zu Beginn jeden Kapitels auf einer Doppelseite eingefügten Farb-Holzschnitte der Künstlerin Franziska Neubert betrachtet, ist mit diesem Buch sehr gut bedient.


Die Ballade. Frankfurt/M, Wien, Zürich: Büchergilde Gutenberg, 12024. [In der unten stehenden Schlagwortliste findet man die bekanntesten Autor:innen, von denen „Balladen“ eingestellt wurden. Die Zahl der tatsächlichen Autor:innen ist größer; mir nicht bekannte oder weniger berühmte Namen habe ich weggelassen.]

Ansichten seit Veröffentlichung bzw. 17.03.2025: 1

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