Selina Chönz / Alois Carigiet: Schellen-Ursli

Links und rechts die weißen Mauern eines alten Engadiner Hauses (das reale Vorbild steht heute noch in Guarda GR), in der Mitte des Bilds ein Torbogen mit Holztor und darin eingelassener Tür aus braun-rotem Holz. Die Mauer ist sehr dick. Auf der Tür befindet sich ein altomodischer Klopfer aus Eisen, in Form einer Katze. Diesen Türklopfer betätigt ein kleiner Junge, der sich dafür auf die Zehenspitzen stellen muss. Sein schwarzes strubbeliges Haar ist zum Teil von einer grünen Zipfelmütze bedeckt. Über der rechten Schulter trägt er eine große "Schelle" (Kuhglocke) mit ihrem typischen, reichverzierten Lederband. Er ist offenbar sehr fröhlich. Rechts neben der Türe hängen - quasi als Türschild - die Namen der beiden Mitwirkenden, Selina Chönz und Alois Carigiet, von dem auch diese Farbzeichnung für sein Buch stammt. Unten auf der Mauer sieht man blaue Muster - die gehören nicht zum Originalbild, sondern sind das Werk der vormaligen jungen Besitzerin des Buchs mit ihrem Schulfüller. Wir zeigen hier nur einen Ausschnitt aus dem Buchcover.

Erinnerungen werden wach … schöne Erinnerungen … Daran, wie ein kleiner Junge mit glänzenden Äuglein das Buch anschaut, es öffnet und die Bilder darin betrachtet, die Verse liest, umblättert, das nächste Bild betrachtet, die Verse liest usw. – rep. ad lib. Es tat sich damals vor dem kleinen Jungen eine völlig neue, bunte und (fast) heile Welt auf. Und ich vermute, bis heute geht es vielen Kindern ähnlich, denen man das Buch in die Hände drückt oder auch zusammen mit ihnen liest / anschaut. (Ich gebe zu: An die glänzenden Äuglein erinnere ich mich nicht, aber das ist ja so der stehende Begriff für den Ausdruck großer Freude in einem Kindergesicht, oder? Hingegen konnte ich schon mit etwa vier Jahren lesen, und ich muss wohl sechs oder sieben Jahre alt gewesen sein zum Zeitpunkt der Szene, an die ich mich noch heute erinnere.)

Womit wir, nebenbei, bereits geklärt hätten, dass im heutigen Aperçu ein Kinderbuch vorgestellt wird, auch wenn natürlich Erwachsene ebenfalls ihre Freude daran haben können – vor allem, wenn sie gut gemachte Buchillustrationen lieben. Diese hier stammen vom nicht unbekannten Schweizer Künstler Alois Carigiet (1902-1985). Das Buch Schellen-Ursli ist, zusammen mit Fortsetzungen und weiteren Büchern mit ähnlicher Thematik, in enger Zusammenarbeit zwischen Selina Chönz, der Autorin, und Carigiet entstanden. Man erkennt diese Bücher daran, dass sie (zumindest in der Originalausgabe) allesamt im selben, komfortablen Querformat gehalten sind (32cm breit, 25cm hoch), einen dicken Kartoneinband aufweisen, der Text (in Gedichtform) jeweils auf der linken und eine ganzseitige Illustration auf der rechten Seite zu finden ist.

Die Geschichten wurden, wenn ich das richtig verstehe, zunächst verfasst im Unterengadiner Dialekt des Rumantsch (= Rätoromanisch, eine Tochtersprache des Latein, die im Verschwinden begriffen ist, indem sie nur noch in wenigen Bergtälern des Kantons Graubünden und im Friaul gesprochen wird – dazu noch in Dialekte zersplittert). Das ist umso erstaunlicher, als die Autorin Tochter eines gebürtigen Deutschen namens Meyer war, und die Schulzeit in Lausanne und in Bern verbrachte. Sie heiratete später den Architekten Könz, der seinerseits ebenfalls nicht aus dem Engadin stammte. Dennoch fühlte sich Selina Könz der Pflege der rätoromanischen Sprache verpflichtet und änderte gar ihren Namen als Autorin in ‚Chönz‘, weil das romanischer klang. Das Paar lebte im Dörfchen Guarda im Unterengadin. Allerdings wurde Selina Könz von den anderen Frauen offenbar nicht gerade freundlich angeschaut.

Der Schellen-Ursli erschien zum ersten Mal 1945 und wurde sofort ein großer Erfolg. Die Geschichte spielt in Guarda, wo auch Autorin und Illustrator lebten, und ereignet sich kurz vor und an „Chalandamarz“, den Kalenden des März – in heutiger Sprache: am 1. März. Das war im römischen Kalender der Jahresanfang; mit der Zeit änderte sich die Bedeutung des Begriffs „Chalandamarz“. Er bezeichnet heute (und bezeichnete schon 1945) eine Art Frühlingsfest, an dem die (ursprünglich nur männliche) Dorfjugend mit Schellen und Rätschen ((Kuh-)Glocken und Ratschen) – also mit viel Lärm – den Winter vertreibt.

Der Plot des Schellen-Ursli ist kindgerecht gehalten und kurz und knackig. Der kleine Urs will nicht mit den anderen kleinen Buben im Umzug mithalten – er will mit den Großen dabei sein, denn nur diese erhalten Nüsse, Schnitz und Kuchenbrocken, die Kleinen gehen leer aus, weil sie hinterdrein marschieren und die Leute schon alles den Großen verschenkt haben. Bei der offiziellen Austeilung der Glocken allerdings kriegt der Kleinste, also Urs, trotzdem nur eine kleine Kälberglocke, worauf ihn die anderen auslachen und ihm den Spottnamen Schellen-Ursli anhängen. Traurig setzt sich Ursli in den Schnee, da kommt ihm die Erleuchtung. In der Alphütte seines Vaters hängt an der Wand noch eine riesige Kuhglocke. Was, wenn er sich diese besorgen könnte? Gedacht, getan. Ursli marschiert los. Da der Weg dann doch anstrengender war als gedacht, schläft er im warmen Stroh in der Hütte aber ein und wacht erst am nächsten Morgen wieder auf. Die Eltern machen sich natürlich unterdessen Sorgen; die halbe Nacht sucht ihn das Dorf. Ursli aber kommt am nächsten Morgen unbeschadet heim – mit der Glocke. Da er nun die größte Glocke hat, darf er im Umzug dann auch ganz vorne dabei sein. Zum Schluss sitzen alle drei, Mutter, Vater und Sohn, am Küchentisch vor einer riesigen Portion Kastanienribel (ein Art Polenta aus grob geschroteten Kastanien).

Genügend Spannung also für ein kleines Kind. (Während jede Verfilmung daran scheitert, dass man daraus allenfalls einen fünfminütigen Film fürs Sandmännchen drehen könnte.)

Interessant sind aber auch die pädagogischen Aspekte dieser Geschichte. Selina Meyer war ausgebildete Kindergärtnerin und hatte später in London einen Kurs der Maria Montessori besucht. Es sei Pädagog:innen überlassen, einen Zusammenhang mit der im Schellen-Ursli stattfindenden Selbstermächtigung des kleinen Jungen zu suchen, aber dass es unterdessen Versionen des Buchs gibt, in denen es darum geht, dass ein Mädchen sich unter lauter Jungs behauptet, zeigt, dass es gerade diese Selbstermächtigung ist, die bis heute fasziniert. Dass die Eltern bei Urslis Rückkehr offenbar kein böses Wort verlieren, dass die Dorfgemeinschaft offenbar den kleinen Jungen ohne Widerspruch an die Spitze des Umzugs stellt und dass wiederum die Eltern zum Schluss ganz versöhnlich (Friede, Freude, Eierkuchen … äh … Kastanienribel) mit dem Jungen essen, zeigt durchaus progressive Züge (wie es denn auch damals schon Stimmen gab, nach denen man dem Jungen hätte Grenzen aufzeigen sollen, ihn mit der Frustration vertraut machen, die die Gesellschaft von jedem Individuum von Zeit zu Zeit verlangt – und man denke an die aktuellen Diskussionen um die so genannte ‚Generation-Z‘). Dass Selina Könz selber offenbar privat andere Ansichten hegte als Schellen-Urslis Eltern, lässt sich aus der Anekdote erraten, nach der ihr etwa sechsjähriger Sohn für sich ein anderes Ende dichtete – eines, das offenbar eher seinen Erwartungen entsprach: Seinem Schellen-Ursli wurde nämlich der Hintern versohlt …

Bei meinem letzten Besuch in der Buchhandlung meines Vertrauens habe ich feststellen dürfen, dass der Schellen-Ursli noch heute angeboten wird – sogar in englischer Übersetzung. Er ist, meine ich, bis heute hinter dem Heidi und dem Regenbogenfisch der drittgrößte Exportartikel im Bereich ‚Kinderbuch‘ der Schweiz. Verständlich.

Ob ich nun alle anderen Bücher von Chönz / Carigiet auch noch lese?


PS. Ob sich Selina Chönz wirklich dessen bewusst war, was sie da formuliert zur Beschreibung des Moments, als Ursli mit der Enttäuschung fertig werden muss, doch die kleinste Schelle erhalten zu haben?

Er möcht im Zug gern vorne sein,
nicht mit den Kleinen hintendrein,
denn vorne gehn die grossen Bengel
und schütteln stolz die Glockenschwengel.

Honi soit qui mal y pense.

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