Hans-Dieter Gelfert: Charles Dickens

Gelfert schreibt in seinem Vorwort, dass Michael Slaters Dickens-Biographie keiner Ergänzung bedürfe: Alles, was es zu Dickens‘ Leben zu recherchieren, zu erzählen gäbe, habe Slater umfassend und kompetent dargestellt. Weshalb er, Gelfert, auch nichts Neues zu berichten wisse und er die die dort referierten Daten weitgehend übernommen habe. Da es diesfalls aber einer Rechtfertigung bedarf für eine weitere Dickens-Biographie, so meinte der Autor, Werkbeschreibungen und -interpretationen hinzufügen zu müssen.

Und genau da liegt’s … Neben der brav referierten Lebensbeschreibung gibt es speziell ausgewiesene Kapitel zu den einzelnen Werken von Dickens. Eine Inhaltsangabe und die Interpretation einer Symbolik, die laut Gelfert vor allem aus einer immer sich wiederholenden Trias besteht: Wasser, Gefängnis, Erbschaft – zwischen diesen Angelpunkten bewege sich das Schaffen des Autors – und tatsächlich lässt sich diesbezüglich fündig werden. Und wenn es denn doch ein wenig schwierig wird, reicht ein Mindestmaß an Kreativität, um derlei ausfindig zu machen: So reicht dann schon mal der Nebel, um das feuchte Element zu evozieren und im Zweifelsfall auch Darstellungen von allerlei Meeresgetier. Aus einem tatsächlichen Gefängnis wird alsbald ein metaphorisches, alte Gebäude, jede wenig angenehme Wohnstatt muss für das Kerkerhafte herhalten. Und sind keine Testamente vorhanden, an denen sich das Erbschaftsthema hinreichend belegen ließe, so sind es schlicht genetische Dispositionen, die eine solche Interpretation nahelegen – und wer wollte schon von solchen Dispositionen frei sein? – das Genom ist evolutionäres Schicksal.

Selbst bezüglich der Inhaltsangaben bin ich skeptisch geworden: Ausgerechnet jener Roman (Nicholas Nickleby), den ich gerade eben gelesen habe und dessen Handlung mir noch präsent ist, wird schlicht falsch wiedergegeben. So dient das Vermögen des alten Nickleby keineswegs dazu, dass Nicholas seine Madeline heiraten kann, sondern wird – seiner unethischen Herkunft wegen – zurückgewiesen und fällt an den Staat. Und der alte Nickleby stirbt auch nicht an Madelines geplanten Hochzeitstag mit einem alten Wucherer, sondern vielmehr ihr Vater, den sie durch diese Heirat aus dem Schuldgefängnis meinte befreien zu können. – Das sind im übrigen noch nicht mal Kleinigkeiten, sondern (vor allem die Zurückweisung des ererbten Geldes) konstituieren die intendierte Aussage des Romans. Wenn nun aber in gerade jenem Roman, den ich noch genau zu erinnern vermag, solche Fehler auftauchen, lässt sich die Vermutung, dies könnte auch bei anderen Inhaltsangaben der Fall sein, nicht ganz von der Hand weisen.

Im übrigen beschleicht den Autor später selbst der Verdacht, dass seine Interpretationen beim geneigten Leser Skepsis hervorrufen könnten. So lässt er sich bei der Analyse des letzten Romans (Our Mutual Friend) wie folgt vernehmen: „Wer die bisherigen Hinweise auf die Symbolik in den Romanen als Überinterpretation empfand, wird sie in Our Mutual Friend nicht mehr übersehen können.“ Das mag durchaus sein, denn unabhängig von deren Stichhaltigkeit sind sie im Grunde völlig belanglos (ich vermute im übrigen, dass – wie bei vielen anderen Autoren auch – die auf natürliche Weise eingeschränkte Erfindungsgabe Ursache für die „wiederkehrende Symbolik“ sind, also weniger bewusst eingesetzt wurden, sondern eine phantasiebedingte Grenze darstellen), insofern belanglos, als dass sie wenig bzw. nichts zu einem tieferen Verständnis der Romane beitragen. Das Ganze erinnert an Germanistikseminare (oder gar Oberstufendeutschunterricht), in denen Schüler und Studenten mit meist pseudoklugen Auslegungen gequält bzw. gezwungen werden, sich selbst an dergleichen zu versuchen.

Offenbar wollte Gelfert unbedingt ein Buch über Dickens schreiben – und sah die Rechtfertigung für dieses sein Unterfangen aufgrund der bereits penibel aufgearbeiteten Lebensgeschichte einzig in diesem Interpretationswust. Zurück bleibt ein seltsam zusammengestückeltes Machwerk, dessen Lektüre etwas mühselig ist (so gibt es etwa im Anhang eine über 25 Seiten sich hinziehende Aufzählung aller Bekannten und Verwandten von Dickens, deren Sinnhaftigkeit mehr als fragwürdig erscheint und den Eindruck erweckt, als ob da jemand dem Bedürfnis nachgibt, einfach ein paar Seiten mehr zu produzieren). Wahrscheinlich ist man mit einer der Rowohlt-Monographien (die ich im Falle von Dickens nicht kenne) besser bedient – zumindest preislich.


Hans-Dieter Gelfert: Charles Dickens. München: C. H. Beck 2011.

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