Johann Gottfried Herder: Kritische Wälder.

Großaufnahme einer grauen Gewebestruktur (= Leineneinband der gelesenen Ausgabe).

Ursprünglich sind die Kritischen Wälder anonym erschienen, aber natürlich wussten Herders Freunde (und wohl auch die meisten seiner Feinde), wer der Verfasser war. Trotz der Anonymität handelt es sich hier um den zweiten Versuch Herders (nach dem im Freundeskreis als Fragmente bekannten Aufsatz Ueber die neuere Litteratur), sich als Literaturkritiker im engeren und als Kunsttheoretiker im weiteren Sinn einen Namen zu machen. Die Kritischen Wälder erschienen 1769 in drei Bänden, ein geplanter vierter kam nicht mehr zu Stande. (Was dann rund ein halbes Jahrhundert nach Herders Tod als vierter Band zusammen und vors Publikum gestellt wurde, hat mit Herders Plänen wohl wenig bis nichts zu tun.)

Es fängt denn auch gut und interessant an. Das erste Wäldchen mischt sich in die Diskussion zwischen Lessing und Winckelmann über die darstellerischen Mittel und Möglichkeiten verschiedener Kunstzweige – vornehmlich natürlich der Literatur einer- und der Bildhauerei andererseits. In der Dichtung ist es vor allem das Drama, das Lessing (und in seinem Gefolge auch Herder) interessiert. Äußerer Anlass dieses ersten Wäldchens war natürlich Lessings drei Jahre zuvor erschienene Schrift Laokoon, in der er, um sie kurz zusammen zu fassen, dem Dichter / Dramatiker empfiehlt, nur Handlung darzustellen, während der Bildhauer die Finger von der Handlung lassen soll und nur beschreibend-darstellend wirke – natürlich nicht mit der Sprache sondern in härterem Material. Aus dieser Sicht hielt Lessing die berühmte Laokoon-Gruppe (heute in den Vatikanischen Museen) für misslungen. Winckelmann hielt hingegen diese Skulptur in seinen rund zehn Jahre älteren Schriften für ein Meisterwerk, eine vollkommene Regel der Kunst. Herder wiederum in seinem Wäldchen wog die beiden Ansichten ab, um schlussendlich Winckelmanns Ansicht zuzuneigen – vor allem, weil er in der Literatur (der antiken, klassischen bereits, in Homer und Sophokles) jede Menge Beschreibungen ohne Handlung vorfand, Lessings Ansicht also nicht als klassische (sprich: antike) Regel akzeptieren konnte. Das erste Wäldchen endet mit der Mitteilung von Winckelmanns Ermordung. Damit gab es offenbar für Herder keinen Grund mehr, diese Diskussion weiter zu vertiefen; jedenfalls bringen die beiden folgenden Wäldchen ganz anderes Material.

Das zweite Wäldchen beginnt auch noch sehr interessant. Das Interesse der Lesenden wird hier allerdings nicht vom Inhalt sondern der Form geweckt. Herder, der sich zur Zeit der Abfassung der drei Bände in Riga aufhielt, war dort in eine Auseinandersetzung mit dem Philologen und Professor in Halle, Christian Adolph Klotz, geraten. Klotz war für den jungen Herder, was der Theologe Johann Melchior Goeze für Lessing war: der Gegner schlechthin, ein Gegner, der nicht nur die literarischen Schriften des Opponenten bekämpfte, sondern auch in dessen privates Leben eingriff. Herder greift zu Beginn des zweiten Wäldchens zum selben Mittel der Schädlingsbekämpfung, zu dem auch Lessing gegriffen hat: Er greift erst einmal seinen Gegner mit einer groß angelegten satirischen Attacke an. Tatsächlich steht Herder in diesem Teil des Textes Lessing in nichts nach. Hatte er in den Fragmenten die Satire noch theoretisch behandelt, so übte er sie nun praktisch aus.

Leider verfügte Herder aber nicht über die Ausdauer eines Lessing. Schon im Lauf des zweiten Wäldchen und dann im ganzen dritten will er den Gegner auch mit Gründen bekämpfen. Das bedeutet, dass er sich nun selber in die Abgründe der Philologie begibt, in denen sich Klotz so gern tummelte. Wie weit die heutige klassische Philologie Herders (oder Klotz’ – quant à ça) Argumenten überhaupt noch folgen würde, entzieht sich meiner Kenntnis. Aber für ein nicht-philologisches Publikum sind Herders Argumente kaum interessant und man wundert sich, dass und wie das zeitgenössische Publikum über die wohl anvisierten Intellektuellen und Literaten so etwas lesen konnte. (Wobei das zeitgenössische Publikum natürlich vor allem aus solchen bestand. Heute besteht selbst unter Intellektuellen und Literaten aller Geschlechter und Nationen großer Erklärungsbedarf für diese Passagen – größerer noch als zur Zeit der kritischen Ausgabe durch Suphan in den 1870ern und 1880ern.)

Fazit: Wer an Entwicklung und Diskussion ästhetischer Theorien interessiert ist, sollte das erste Wäldchen unbedingt lesen. Wer Herder in der doch recht ungewohnten Rolle eines Satirikers-ad-personam erleben will, sollte auch noch den Anfang des zweiten Wäldchens lesen. Den Rest empfehle ich nur noch für Interessierte an Hardcore-Philologie bzw. einer Geschichte ebendieser.

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