Mein kleines Konzertabonnement ist etwas ungleichmäßig über die Saison verteilt. Den genauen Grund dafür könnte ich nicht angeben. Was mir erst in der laufenden Saison so richtig aufgefallen ist: Jedes der Abonnementskonzerte stellt einen Stern am musikalischen Himmel in den Vordergrund, zusammen mit dessen Instrument. Während ich in der vergangenen Saison das Gefühl hatte, dass relativ viele Frauen das Orchester leiteten bzw. als Solistin amteten, habe ich in der aktuellen Saison noch keine Frau am Leitungspult gesehen und auch nur wenige Solistinnen. Programmtechnisch muss offenbar mindestens eines der aufgeführten Stücke, eine:r der Komponierenden, aus dem 20. oder gar 21. Jahrhundert stammen. Auffallend ist auch, dass – zumindest gefühlt – sehr viel Schubert und Mendelssohn Bartholdy gespielt wird, generell sehr viel aus der deutschen Romantik.
So auch heute Abend: Das 20. Jahrhundert ist vertreten mit dem Schweizer Frank Martin (den ich für einmal sogar kannte, wenn auch nicht die heute aufgeführten Monologe), die Romantik dann mit – natürlich – Schubert und Mendelssohn Bartholdy. Der Stern des Abends ist dieses Mal ein Sänger, der Bariton Mikhail Timoshenko (einspringend für den ursprünglich vorgesehenen, aber erkrankten Andrè Schuen). Das Instrument des Abends ist demzufolge die menschliche Stimme.
Gleich bei der Ankunft fällt mir auf, dass das Publikum hier auch schon jünger gewesen ist. Die ganz Alten fehlen allerdings ebenfalls. Das will mich zuerst erstaunen, steht doch mit Frank Martin ein Komponist auf dem Programm, der mit seiner Anlehnung an die Zwölftonmusik relativ avant-gardistisch ist – bis mir einfällt, dass sich hier ja genau das Publikum eingefunden hat, für den Martin vor rund 50 Jahren die Avant-Garde vorstellte … Aber es sind offenbar die meisten Anwesenden noch jung genug, um vor der Vorstellung ein Glas Wein trinken zu wollen und wohl auch an einem belegten Brötchen knabbern. Oder vielleicht ist es der Umstand, dass heute – zum ersten Mal seit Tagen – die Sonne sich wieder durch den Hochnebel hat kämpfen können und die Temperatur signifikant über den 0°-Punkt gestiegen ist; jedenfalls habe ich noch nie eine so lange Schlange vor der kleinen Bar gesehen. So lange in der Tat, dass ich dann darauf verzichte, mich auch noch anzustellen.
Nüchtern gehe ich also in den Konzertsaal und höre nun als erstes
Frank Martin.
Sechs Monologe aus Hofmannsthals Jedermann, für Bariton und Orchester, entstanden 1943–1944. Hofmannsthals Jedermann hat den Schweizer Komponisten offenbar sehr beeindruckt. Als ihn ein befreundeter Bariton fragte, ob er nicht etwas für seine Stimmlage komponieren könnte, griff er gleich darauf zurück. Ja, Hofmannsthals Stück beeindruckte Martin derart, dass er zunächst sogar daran dachte, daraus eine ganze Oper zu machen. Warum genau er diesen Gedanken dann wieder verwarf, wüsste ich nicht zu sagen – gerade Hofmannsthal, der ja selber nicht nur Dramen sondern auch Libretti geschrieben hat, würde sich mit seinem Jedermann nachgerade für eine Oper anbieten, möchte ich behaupten. Aber vielleicht war es gerade dieses allzu Offensichtliche und Einfache, das Martins künstlerisches Ohr beleidigte und ihn Abstand nehmen ließ. Es blieb bei den sechs Monologen Jedermanns, in denen dieser, der sich plötzlich mit seinem Tod konfrontiert sieht, sämtliche Emotionen durchläuft, von anfänglicher Angst zu einer Loslösung von irdischen Gütern und schließlich zu einem Aufstieg, der durch Furcht und Leid in die geistige Welt führt. Ganz großes Kino also. Martin hat das dann so gelöst, dass der Gesangspart relativ nah an einem ‚normalen‘ (Schauspiel-)Monolog bleibt, und die Gefühle Jedermanns sich vor allem im Orchester-Part widerspiegen.
Das Publikum vermag die Darbietung zu schätzen, und es gibt freudigen und lange anhaltenden Applaus.
Es folgt:
Franz Schubert.
Die heute aufgeführten Lieder sind nicht unbekannt, weniger bekannt sind deren Fassungen für Orchester und Gesang von Max Reger, die dieser meines Wissens kurz vor dem Ersten Weltkrieg verfasste.
Genauer gesagt, sind es die Lieder «Im Abendrot» nach einem Gedicht von Karl Lappe, «Litanei» nach einem ursprünglich neunstrophigen Gedicht von Johann Georg Jacobi und zum Schluss «Nacht und Träume» nach einem Gedicht von Matthäus Karl von Collin. Ich wage zu behaupten, dass ohne Schubert selbst das Gedicht des (zumindest für in der Goethe-Zeit Bewanderte) doch recht bekannten älteren Jacobi-Bruders niemand mehr zu Ohren bekäme.
Ich habe das Gefühl, dass sich der Bariton hier etwas wohler fühlt als bei Martin. Das ist auch kein Wunder, denn wenn Martin das Orchester quasi gegen die Stimme komponierte, der Sänger sich also etwas allein gelassen sieht, ist Schubert noch von jener Generation, in der der Gesang in der Melodie vom Orchester gestützt wird. Jedenfalls braust der Applaus hier vielleicht noch heftiger auf als vorher – nützt aber nichts, es gibt für einmal keine Zugabe. (Immerhin ist ja – anders als sonst hier üblich – der ganze Teil vor der Pause dem Star des Abends gewidmet. Damit soll es dann aber offenbar auch genug sein.)
Ja, die Pause. Dieses Mal ist die Schlange vor der Bar etwas kleiner und ich gönne mir dann doch ein Glas Weißwein. Das heißt: Ich habe gedacht, es sei Weißwein. Und mich dann gewundert über den seltsamen Geschmack im Mund. Da hat es mich doch Wunder genommen, und ich habe die Karte genauer gelesen (was man natürlich vorher tun sollte): Da stand ganz deutlich: Federweisser! Ja dann! („Federweisser“ heißt in der Schweiz jener Wein, der aus roten Trauben gekeltert wird, aber so, dass man den Traubensaft sofort von den Schalen trennt, dann bleibt er „weiß“. Der Fachbegriff dafür ist meines Wissens Blanc de Noirs; in Deutschland entspricht ihm wohl am ehesten der „Weißherbst“. Es ist bitte kein Rosé, obwohl er ihm geschmacklich näher steht als dem Weißwein, und er schreibt sich mit Doppel-s, nicht mit dem seltsamen ‚ß‘ der deutsch-österreichischen Orthographie.) Das Problem ist für mich gelöst; ich trinke mein Glas aus und begebe mich zurück in den Konzertsaal, um noch den zweiten Teil anzuhören.
Felix Mendelssohn Bartholdy
Ohne den Stargast nun also noch Mendelssohn Bartholdys Sinfonie Nr. 5, entgegen ihrer Nummerierung als zweite entstanden, aber später vom Komponisten sozusagen ‚enterbt‘1). Ihr Schicksal war auch ziemlich traurig: Zum 300. Jubiläum der Confessio Augustana im Jahr 1830 komponierte Felix Mendelssohn Bartholdy von sich aus ein festliches Werk. Wegen der Unruhen im Gefolge der französischen Julirevolution fanden jedoch keine offiziellen Feierlichkeiten statt. Damit kam die geplante Uraufführung der Sinfonie weder in Berlin noch in Augsburg zustande. Auch eine Aufführung in Leipzig scheiterte, weil Noten nicht rechtzeitig kopiert waren. In Paris weigerten sich die Musiker, das Werk zu spielen. Mendelssohn Bartholdy wollte dementsprechend am Ende seines Lebens nichts mehr von ihm wissen. Die Sinfonie wurde nach seinem Tod dann doch noch am Schluss des Werkkanons angefügt und trägt deshalb die höchste Nummer aller seiner Sinfonien. ‚Mein‘ Orchester rühmt sich nun, es breche einmal mehr eine Lanze für ein zu Unrecht verkanntes Werk, wie es so schön in der Programmankündigung heißt.
Hat es sich gelohnt? Das Orchester ist sicher auch heute Abend in Hochform und kriegt entsprechend Applaus. Der Dirigent seinerseits hat sich bei seiner Arbeit völlig verausgabt; zwischen den einzelnen Sätzen muss er sich jedes Mal den Schweiß vom Gesicht wischen. Das Pärchen, das vor mir aus dem Saal geht, schwärmt sogar von der Reformations-Sinfonie als solcher. Ich kann das nicht ganz teilen, für meinen Geschmack zerfallen die einzelnen Sätze zu oft in verschiedene plötzlich aufspringende Melodieteile, die dann ebenso plötzlich wieder verschwinden. Experimentell, ja. Aber auch ein bisschen disparat.
Der Abend ist aber dennoch gelungen, befriedigt gehe ich nach Hause.
1) In einem Brief im Jahr 1838 schrieb er: Die Reformationssinfonie kann ich gar nicht mehr ausstehen, möchte sie lieber verbrennen als irgend eines meiner Stücke; soll niemals herauskommen.