Machado de Assis (1839-1908) führte die brasilianische Literatur praktisch im Alleingang in die zeitgenössische Moderne. War vor ihm dort ein barock verzopfter Klassizismus angesagt, so wurde die Literatur nun schlichter und beschäftigte sich mit dem zeitgenössischen Menschen – die Art Literatur, die in Frankreich, Großbritannien oder Deutschland als Realismus gehandelt wurde. Machado sollte nicht hierbei stehen bleiben, seine Entwicklung führte ihn zu symbolistischen Experimenten und schließlich zu einem Stil, der ihn – wie der Argentinier Borges einmal meinte – zum Ahnherrn des in Lateinamerika groß gewordenen magischen Realismus machte.
Machado ist also nicht nur ein Klassiker der brasilianischen Literatur, er ist ein wichtiger Bestandteil der Weltliteratur. Das gilt vor allem für seine Prosa – Romane und Kurzgeschichten. Während sich die meisten seiner Romane auch ins Deutsch übersetzt finden und zum Teil noch im Buchhandel greifbar sind, gilt das nur für einen kleinen Teil seiner Kurzgeschichten. Und das ist schade. So ist einer meiner Gründe, warum ich hier eine nicht ins Deutsche übersetzte Kurzgeschichten-Sammlung des Brasilianers vorstelle, auch, dass ich ganz im Geheimen hoffe, dass sich irgendwo ein Verlag, ein Übersetzungsbüro, davon überzeugen lassen, dass auch die kürzeren Texte Machados ganz große Literatur sind und so irgendwann und irgendwo einmal eine deutsche Übersetzung davon existieren wird.
Histórias da Meia-Noite erschien 1873. Darin hat Machado sechs Geschichten gesammelt, die zwischen 1870 und 1873 von der damals in Rio de Janeiro erscheinenden Zeitschrift Jornal das Famílias zuerst abgedruckt wurden. Meines Wissens wurde nie eine dieser Geschichten ins Deutsche übersetzt. Das mag daran liegen, dass hier noch nicht der ganz, ganz große Autor am Werk ist. Aber es ist immerhin schon der Realist zu Gange.
Bei allen sechs Geschichten handelt es sich um welche mit Liebeshändeln. Mal kriegen sich die beiden Liebenden, mal auch nicht. Aber selbst, wenn sie sich nicht kriegen, ist es keine Tragödie. Die Geschichten werden bewusst auf kleinem Feuer geköchelt – das große Drama gilt für Machado als überwunden. Dabei hilft ihm auch die immer präsente Ironie, mit der er seine Figuren betrachtet und gestaltet. Alle Geschichten spielen in Brasilien, die meisten sogar in Rio de Janeiro, der Heimatstadt des Autors, eine Stadt, die er sein Leben lang kaum verlassen hat. (Ich bin versucht, den Erneuerer der brasilianischen, ja der Weltliteratur, zu vergleichen mit dem Erneuerer der deutschen Philosophie, ja der Philosophie überhaupt: Auch Immanuel Kant hat seine Heimatstadt bekanntlich kaum verlassen. Beide hat ihre Sesshaftigkeit nicht daran gehindert, im ganz großen Stil anzurichten.)
Histórias da Meia-Noite heißt übersetzt „Mitternachtsgeschichten“. Damit bezeichnete man in Brasilien jene Geschichten, die man sich spät in der Nacht kurz vor dem Auseinandergehen einer Gesellschaft noch erzählte. Keine außergewöhnlichen Ereignisse wurden da mehr berichtet, eher eine Art Klatsch – und eben Liebesgeschichten. Alltagsstories in alltäglicher Sprache vorzustellen – damit traf er den Geschmack des städtischen Publikums, das war das Geheimnis des früh einsetzenden Erfolgs des Schriftstellers Joaquim Maria Machado de Assis.
Um die Histórias da Meia-Noite mit etwas Bekanntem zu verknüpfen: Wie schon in den früher erschienenen Contos Fluminenses erinnert der ‚junge‘ Machado in diesen Erzählungen an den gleichzeitig tätigen Schweizer Realisten Gottfried Keller. Geschichten, die man sich bei einem letzten Glas Wein, bei einer letzten Zigarre, noch erzählen kann. Und auch wenn diese Geschichten hier noch nicht die Qualität aufweisen, die Machado noch erreichen wird: Die Krallen des Löwen sieht man allemal.
Wo also ist der Verlag, der sich an eine Übersetzung wagt?