Guy de Maupassant: Le Horla

Zeichnung: Auf dem Hintergrund einer grünen Hecke sehen wir den schräg nach links geneigten Oberkörper eines Mannes (schwarzer Anzug, weißes Hemd, rote Krawatte, dunkelgrüne Weste), der angstvoll die Hände vor den Oberkörper hält, wie um etwas abzuwehren, das die Zuschauenden aber nicht sehen. – Ausschnitt aus dem Buchcover.

Vor mir liegt ein schmales Büchlein von rund 150 Seiten, dessen vollständiger Titel lautet: Le Horla et autres nouvelles fantastiques. Six nouvelles. Es ist erschienen als N° 22 in der Reihe Biblio Collège beim Verlag Hachette in Paris. Ich werde meine Ausgabe noch genauer vorstellen; dieses Aperçu zerfällt in zwei Teile – einmal spreche ich über ein paar der sechs „Novellen“ (wie Maupassants Kurzgeschichten im Büchlein durchgehend genannt werden), vor allem der titelgebenden natürlich, dann noch über die Präsentation der „Novellen“ in dieser Ausgabe.

Die sechs „Novellen“

Neben Horla von 1887 finden sich hier noch

  • La peur (1) [Die Angst] von 1882
  • La main [Die Hand] von 1883
  • Apparition [Erscheinung] ebenfalls von 1883
  • La peur (2) von 1884
  • Un fou? [Ein Verrückter?] ebenfalls von 1884.

Nicht alle dieser Geschichten weisen die gleiche Qualität auf; an Le Horla kommt keine heran. Am Gelungensten ist da noch La main, die Geschichte einer Hand, die den Mord an ihrem Besitzer rächt, und wo es Maupassant offen lässt, ob der Tod ihres Besitzer nun wirklich Mord war oder ob es sich allenfalls um gerechtfertigte Notwehr handelte. Denn vieles aus der Vergangenheit der Hand erfahren wir nur von ihrem späteren Opfer. Dieses erzählt seine Geschichte dem eigentlichen Erzähler – wie Maupassant überhaupt gern die Struktur von Rahmen- und Binnenerzählung verwendet. Das ist durchaus sinnvoll im Falle dieser Geschichte hier, La main, wo der Erzähler der Rahmenhandlung weitere gruslige Details berichtet, die nach dem Tod des britischen Erzählers der Binnenhandlung stattfinden. In anderen Fällen wird der Zusammenhang recht künstlich hergestellt, indem zum Beispiel Rahmenerzähler und Binnenerzähler im Zug an einer Landschaft vorbeifahren, die dann den Binnenerzähler an ein Erlebnis erinnert, das er nun dem Rahmenerzähler berichtet. Maupassant schrieb in seinem kurzen Leben unzählige Novellen, und gewisse Routinen waren dafür wohl nötig. (Abgesehen davon: Ich weiß nicht, ob Maupassant jeweils das Honorar nach Anzahl Zeilen entrichtet wurde, wie es damals oft vorkam. Ich vermute es aber, weil dadurch die manchmal doch recht ungeschickt-künstliche – nicht: künstlerische! – Struktur von Rahmen- und Binnenerzählung eine zusätzliche Erklärung findet.) Die Pointe zumindest der Erzählung La peur von 1882 ist ebenfalls noch als gelungen einzustufen – den Rest kann man lesen, muss man aber nicht. Auffällig ist, nebenbei bemerkt, wie oft das Böse oder Unheimliche in Maupassants Texten aus exotischen Gegenden stammt – sei es Brasilien oder der afrikanische Kontinent.

Anders ist es mit Le Horla. Die Geschichte wird in Tagebuch-Form erzählt und handelt davon, dass der Ich-Erzähler sich von einem unsichtbaren Wesen verfolgt fühlt. Das Wesen ist unsichtbar, aber nur bei einem direkten Anblick, denn einer der Bestätigungen, die der Ich-Erzähler für die Existenz des Horla erfährt, besteht darin, dass er eines Tages in seinem Zimmer sitzt und, zufällig in den gegenüber stehenden Spiegel blickend, sich selber darin nicht sehen kann, weil offenbar der Horla zwischen ihm und dem Spiegel steht. Auch trinkt dieses Wesen seiner Meinung nach nachts das Wasser oder auch die Milch, die er sich für allfälligen Durst beim Bett bereit gestellt hat. Hingegen scheint es nicht zu essen. Jeder Versuch, den Horla umzubringen, scheitert – selbst als er ganz zum Schluss sein Schloss anzündet, in dem er seiner Meinung nach das fremde Wesen eingesperrt hat. In der Gegenwart des Horla befallen den Tagebuchschreiber jedes Mal Angst und Beklemmung – und wie groß ist sein Schreck erst, als er erfährt, dass in Brasilien offenbar ein ganzer Stamm Indigener von Horlas befallen ist. Damit ist für ihn klar, dass das sozusagen die nächste biologische Entwicklungsstufe ist, über dem Menschen und diesen in absehbarer Zukunft als Herrscher der Welt ablösend. Überzeugt davon, dass er den Horla nicht umbringen kann, beschließt er am Ende des Textes, sich selber umzubringen. Ob er es tut, erfahren wir nicht. Ebensowenig erfahren wir natürlich – auf Grund der Struktur der Novelle als Ich-Erzählung –, ob dem Horla überhaupt Realität zukommt oder ob er ein Gebilde einer – eventuell krankhaft – überhitzten Phantasie ist.

Le Horla gehört zu Maupassants bekanntesten Texten – zu Recht. Er gehörte ursprünglich zur naturalistischen Schule Zolas, mäßigte sich später zu einer Art Realismus, in Geschichten wie diesen hier finden wir aber auch schon erste surrealistische Züge. Die vorliegende Sammlung zeigt aber auch, dass man nicht zu viele dieser Kurzgeschichten auf einmal lesen darf; dann werden sie repetitiv und langweilen. Aber gerade Le Horla mit seinem fast wissenschaftlich erklärten Monster, dessen Existenz dennoch völlig unbewiesen bleibt, ist durchaus kurzweilig und empfehlenswert – eine der besten Gruselgeschichten der Weltliteratur, die beste wohl der französischen Literatur.

Meine Ausgabe

Es handelt sich bei meiner Ausgabe um eine speziell für den Unterricht eingerichtete. Aber was für eine! Ich weiß nicht, wie die Situation im deutschen Sprachraum heute ist. Es gab schon zu meiner Zeit (wie ich sie hinten wie vorne im Klassenraum verbracht habe) schon spezielle Ausgaben für die Schule, meist als Lernhilfen kaschiert. Aber das waren lieblos gestaltete, trockene Bleiwüsten – voller Erklärungen, die offenbar noch aus dem 19. Jahrhundert stammten. Bis heute lese ich immer wieder von längst Erwachsenen die Klage, dass damals im Unterricht nur die Interpretation der Lehrkraft als gültige akzeptiert wurde. So lenkten denn auch die damaligen Lernhilfen die Schülerinnen und Schüler immer in eine bestimmte Richtung als einzig korrekte.

In dieser modernen Ausgabe hier nun werden Fragen zum Text gestellt, deren Antworten den Lesenden überlassen bleibt. Mag sein, man ging davon aus, dass sie im Unterricht diskutiert würden. Aber dieses Buch hier taugt ebenso zum Selbstunterricht. Das anvisierte Alter ist umgerechnet wohl so ungefähr frühe Gymnasialstufe / Ende der obligatorischen Schulzeit. Die pädagogischen Texte sind reich und meist farbig bebildert – sowohl mit speziell für das Buch angefertigten Grafiken, die in ihrer Stil-Mischung aus Comic und Manga das junge Publikum sicher besser ansprechen als die allenfalls zu findende alten Kupferstiche aus meiner Zeit. (Was nicht heißt, dass nicht auch zeitgenössische Illustrationen verwendet wurden – im Gegenteil, gerade im (literatur-)geschichtlichen Teil finden sich etwelche solche Bilder.) Auf jede Geschichte folgt ein Studienteil, mit immer demselben Aufbau:

  • Zuerst wird das Leseverständnis geprüft mit präzisen Fragen zum Text. Der Text ist nach Zeilen durchnummeriert und in vielen Fällen steht die Zeilennummer der Antwort gleich bei der Frage, so, dass die Kinder gleich nachlesen können, wenn sie etwas nicht zu beantworten wissen.
  • Einige Texte können im Audio-Format heruntergeladen werden – auch diesen Aufnahmen gibt es Fragen.
  • Grammatikalische und sogar linguistische Fragen sind – nach wie vor typisch für das französische Bildungssystem – sehr wichtig.
  • Last but not least gibt man den Kindern die Möglichkeit, die Geschichte selbständig weiter zu erzählen oder auch abzuändern.

Selbstverständlich lässt man die Lesenden nicht ohne Erläuterungen zum Umfeld von Autor und Erzählungen im Regen stehen: Es gibt dafür einen Anhang, ein so genanntes Dossier. Darin finden sich unter anderem kurze Zusammenfassungen jeder „Novelle“, separat davon eine Skizze der Protagonisten (es sind praktisch nur Männer), eine literaturtheoretische Darstellung der Form der „Novelle“ im Allgemeinen, der phantastischen „Novelle“ im Besonderen, ein Ausflug in die Literaturgeschichte des Phantastischen (mit, unter anderen, Hinweisen auf die Autoren Villiers de L’Isle-Adam, Émile Zola, und Bram Stoker). Und wenn ich beim Nachwort zu Paul Gurks Tuzub 37 moniert habe, dass man sich dort nur auf allzu Bekanntes bezogen hat, finde ich es hier für ein junges Publikum mit noch wenig Leseerfahrung gerade richtig und am Platz. Auch die Hinweise auf die handelsüblichen phantastischen Filme sind für junge Menschen sicher interessant und oft neu. (Die Lehrkraft interessiert das natürlich auch, denn dann kann man zwischendurch schon mal so einen Film aus der Videothek hervorkramen und hat damit nicht nur eine oder zwei Unterrichtsstunden ohne großen Aufwand gefüllt sondern auch gleichzeitig den Schülerinnen und Schülern eine Freude gemacht.)

Nicht zuletzt zeigt mein eigener Fall, dass man dieses eigentlich für Lernende an einem Gymnasium gedachte Büchlein auch als Erwachsener lesen und ästimieren kann.

Fazit: Eine sehr gelungene Ausgabe mit sehr guten bis zumindest gelungenen phantastischen Texten des französischen Autors Guy de Maupassant. Und für mich als Achtelsschwaben auch nicht unwichtig: Man wird – selbst auf Französisch – keine so günstige Ausgabe erwischen wie diese hier für die Schule gedachte, die doch den vollständigen Text bringt.

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