Marcel Proust: Contre Sainte-Beuve

Auf ziegelrotem Hintergrund die bearbeiteten und kolorierten Fotografien von Marcel Proust und Charles-Augustin Sainte-Beuve. Proust steht dabei links im Vordergrund, Sainte-Beuve rechts nach hinten gerückt. Der Ausschnitt aus dem Buchcover ist so gewählt, dass von Proust die Stirn und die großen dunklen Augen zu sehen sind, von Sainte-Beuve praktisch der ganze Kopf und ein Teil des Oberkörpers. Beide tragen die Hauskleidung ihrer Zeit.

Als ich vor vielen Jahren dieses Buch las, verstand ich rein gar nichts – weder den Inhalt als solchen, noch überhaupt Sinn und Zweck des Textes. Zu disparat war er mir. Dabei hatte ich noch ein paar Jahre vorher Prousts Roman À la recherche du temps perdu mit Vergnügen gelesen und auch geglaubt, das Wichtigste darin soweit verstanden zu haben. Irgendwo hatte ich damals gelesen oder gehört, Contre Sainte-Beuve sei eine Vorstufe zum großen Roman – ungefähr so wie Joyce’ Dubliners die Vorstufe zu dessen Ulysses darstelle. Unterdessen habe ich vieles über Proust gelesen, Biografisches ebenso wie Literarisches und Philologisches. Heute weiß ich, warum ich damals nichts verstand: Weil es im Grunde genommen in Contre Sainte-Beuve nichts zu verstehen gibt. Jedenfalls dann nicht, wenn man – wie ich damals – Kontinuität des Textes erwartet und Einheit des Inhalts.

Denn dieses Buch hier hat es nie gegeben. Jedenfalls nicht in der vorliegenden Form. Ja, es gab einen Moment, in dem sich Proust angestachelt fühlte, Sainte-Beuves Art der Literaturkritik seinerseits einer Kritik zu unterwerfen, da er dessen anhaltenden Einfluss auf die zeitgenössische Literaturkritik für desaströs hielt, und dessen poetologischen Ansatz für verfehlt. Und es gab den kurz darauf folgenden Moment, in dem Proust merkte, dass eine rein theoretische Metakritik Sainte-Beuves nicht zielführend war, bzw. ihm, Proust, nicht lag. Von daher die Idee, das Ganze als eine Art Traum oder Wachtraum wiederzugeben, den er (bzw. ein Ich-Erzähler) seiner Mutter beim Aufwachen erzählt. Auch das war nicht zielführend, aber Proust realisierte, dass der Rahmen – mutatis mutandis – Potenzial zu mehr hatte. Er ließ Sainte-Beuve einen minderen Kritiker sein und konzentrierte sich darauf, seine eigene Poetologie im Konkreten auszuführen. Dieser Idee verdanken wir die Existenz eines der besten Romane des 20. Jahrhunderts – À la recherche du temps perdu.

Das vorliegende Buch also hat es nie gegeben. Vorarbeiten dazu blieben Fragment und finden sich (wahrscheinlich sogar nur teilweise) im literarischen Nachlass Prousts verstreut. Dennoch fühlte sich der französische Kritiker und Herausgeber Bernard de Fallois 1954 (32 Jahre nach Prousts Tod!) bemächtigt, aus den Fragmenten ein Ganzes herzustellen – oder zumindest einen Text zu formen, der andeuten sollte, wie das Ganze ausgesehen hätte. Er gab an, aus dem Zeitraum, von dem man weiß, dass sich Proust mit dem Gedanken an einen Text über Sainte-Beuve trug, in Prousts Notizheften entsprechende Passagen herausgesucht und sie (meist) in der Reihenfolge ihrer Niederschrift aneinandergesetzt zu haben. (Heute wissen wir, dass er die Schnipsel bedeutend großzügiger und großflächiger zusammen suchte und auch ihre Reihenfolge weniger treu einhielt, als er uns glauben machte.)

Es sind auch recht seltsame Texte in Fallois’ Auswahl zu finden. Da ist einer, Conversation avec Maman [Gespräch mit Mama] überschrieben, der ohne Kontext nachgerade verstörend auf uns Lesende wirken muss. Eines Morgens tritt ein Ich-Erzähler (der noch Marcel heißt und noch einen jüngeren Bruder hat), vor dem Zu-Bett-Gehen – er habe zu jener Zeit, erzählt er uns, bereits die Gewohnheit gehabt, nachts zu arbeiten und tagsüber zu schlafen – auf Grund seines endlich im Figaro veröffentlichten Textes – noch bei seiner Mutter ein. Der nun folgende Dialog ist recht seltsam, weil viel zu kindlich für einen Mann, der im Figaro Kritiken publiziert und also doch bereits erwachsen sein mus. Nun hat Bernard de Fallois insofern Recht, als das man die Szene – über mehrere Zwischenstufen allerdings nur – als Vorstufe jener berühmten betrachten könnte, die ganz früh im Roman aufscheint (und dann einem Kind zugeordnet ist!): die nämlich des unwilligen Schlafen-Gehens, weil man keinen Kuss von Maman erhalten hatte. Wie diese Szene aber hier steht, stiftet sie höchstens Verwirrung. Hat Proust ein tatsächliches Gespräch rekonstruiert? Wenn ja: Hat Proust das ‚einfach so‘ geschrieben, als Handübung und ohne einen Gedanken an Veröffentlichung? Da müsste man denn den Herausgeber doch sehr kritisieren, dies ohne entsprechenden Hinweis zu veröffentlichen. Dachte Proust in jenem Moment daran, ihn so zu veröffentlichen? Falls ja, und falls es eine reale Szene sein sollte, müsste man sich über Prousts Seelenleben ernsthafte Sorgen machen, denn dann ist die Szene schlicht verstörend. Sollte sie aber irreal sein, satirisch-ironisch überhöht, könnte man tatsächlich sagen, dass sich hier schon die hohe Kunst des Romanciers Proust zeigt. Wir stehen vor einem (wahrscheinlich sogar unlösbaren) Rätsel und schlucken leer.

Dieses Beispiel zeigt sehr gut: Die Schnipsel sind an und für sich meist gar nicht einmal uninteressant. Aber man sollte sich vom Gedanken lösen, hier eine Einheit vor sich zu haben oder gar Kontinuität im Text. So haben wir zunächst tatsächlich zumindest teilweise ‚echte‘ Vorstufen zu À la recherche du temps perdu vor uns – zum Beispiel die berühmte Szene der Erinnerung via ein Madeleine. In Contre Sainte-Beuve handelt es sich allerdings noch um geröstetes Brot zum Tee. Wichtig wird dieser Unterschied zum finalen Text dadurch, dass Proust in der Vorstufe noch erste poetologische Überlegungen hinzufügt. (Und nein: Wir wissen nicht, ob das geröstete Brot der Realität eher entspricht als das Madeleine …)

Interessant ist die bei allen Fragmenten mehr oder weniger durchscheinende Poetologie Prousts, die er später in seinem Roman versteckter anzeigen wird. Es gibt für Proust keine Realität beim Schreiben, weil Schreiben immer ein Schreiben aus der Erinnerung ist. Realismus gibt es im strengen Sinn nicht. Reale Objekte oder Handlungen können die Erinnerung an eine bestimmte Situation triggern (wie wir heute sagen). Was dann die Schriftstellenden erzählen können, ist aber nicht eine Form von Realität sondern ihre je eigenen Erinnerungen an eine einst reale Situation. In dieser, Prousts, Version des Impressionismus macht sich ganz klar sein Kant-Studium bemerkbar: Die eigentliche Realität, das Ding an sich, können wir, können Schriftstellende, nicht erkennen und so auch nicht schildern.

Das ist, was Marcel dem Literaturkritiker Sainte-Beuve vorwirft: Dieser ist der Meinung, das Ding an sich, den Text an sich, fassen zu können. Er nimmt dazu die Biografie der Schreibenden, wie sie sich durch die Erinnerungen Dritter (oder eigene Erinnerungen bei zeitgenössischen Autor:innen) präsentiert, und verwendet sie dazu, Rückschlüsse auf die Schriftstellenden zu ziehen, und von da wiederum auf deren Text. So jedenfalls schildert uns Proust die positivistische Methode des Literaturkritikers Sainte-Beuve. Besonders bei seinen Lieblingen, Nerval und Baudelaire findet Proust diese Technik unangebracht. So bringt er das Beispiel, dass – wo Nerval Ortsbezeichnungen verwendet – nie der real existierende Ort gleichen Namens gemeint ist sondern ein poetischer, durch Erinnerung geformter Ort. (Womit Proust ganz nebenbei Nerval aus dem Kreis der Romantiker in den der Impressionisten zieht.) Bei Baudelaire sind Prousts Vorwürfe an Sainte-Beuve noch heftiger und auch persönlich. Baudelaire war ein Zeitgenosse Sainte-Beuves und betrachtete diesen als seinen Freund – etwas, dem Sainte-Beuve nicht widersprach, wodurch Baudelaire durchaus Berechtigung genug zog, auch umgekehrt an Sainte-Beuves Freundschaft zu ihm zu glauben. Als Baudelaire nun aber für der Veröffentlichung seines Gedichtzyklus Les fleurs du mal einen Prozess wegen Verletzung moralischer und religiöser Gefühle am Hals hatte, und er Sainte-Beuve um Beistand bat (ein positives Gutachten eines der führenden Literaturkritiker hätte einiges bewegen können), reagiert der bloß mit einem Zeitungsartikel, in dem er Baudelaire einen „guten Jungen“ nannte, sich ansonsten aber um eine Beurteilung drückte der Gedichte dessen, der ihn als seinen Freund betrachtete, worauf Proust mit großer Empörung hinweist. Der schlechte Literaturkritiker weist also auch einen schlechten Charakter auf, ist Prousts Botschaft. Im weiteren Verlauf seines Lebens als Autor würde allerdings Sainte-Beuve weit in den Hintergrund rücken.

Summa summarum: Selbst heute, mit viel mehr Informationen zu Prousts Leben und Schreiben zur Hand, bleibt der Text als Ganzes für mich immer noch unbefriedigend. Im Detail aber, im einzelnen Fragment, ist viel Interessantes zu finden.

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