Am 4. Dezember 1875 kam René Karl Wilhelm Johann Josef Maria Rilke in Prag zur Welt. Das bedeutet, dass sich sein Geburtstag dieses Jahr (2025) zum 150. Mal jährt. Auf Anraten seiner Freundin Lou Andreas-Salomé änderte er seinen ersten Vornamen in Rainer – sie fand diesen Namen für einen männlichen Lyriker passender. Da er nun also als Rainer Maria Rilke zu einem der berühmtesten deutschen Lyriker geworden ist, wird es wohl niemand wundern, dass schon gleich zu Beginn dieses Jahres das Feuilleton ordentliche Trommelwirbel losließ. Ich gestehe, die wenigsten Aufsätze gelesen zu haben – was vor allem daran liegt, dass ich mich nicht immer und jedes Mal von einer Paywall im Internet freikaufen kann. In der Zwischenzeit sind die Trommelwirbel leiser geworden, ja sie haben praktisch ganz aufgehört. Vielleicht aber spart sich das Feuilleton seine Munition auch auf für das Herbst- und Weihnachtsgeschäft – wofür Rilke mit seinem Geburtstag im Dezember ja prädestiniert wäre. Bereits heute werden zwei neue Biografien zum Dichter angekündigt.
Jedenfalls war der Rummel zum Jahresanfang für mich auch eine Erinnerung daran, dass ich schon lange einen der besten Gedichtzyklen deutscher Sprache wieder lesen wollte: die Duineser Elegien. Zehn Gedichte, keines davon in der klassischen (will sagen: griechisch-antiken) Form einer Elegie. Zehn Gedichte, die im Lauf von eben so viel Jahren verfasst worden sind (1912-1922). Den Namen tragen sie vom Schloss Duino bei Triest, wo Rilke als Gast der Gräfin Marie von Thurn und Taxis-Hohenlohe mit seinem Gedicht-Zyklus begonnen hat, der ihm dann zehn Jahre lang keine Ruhe lassen sollte.
In den zehn Elegien beschreibt Rilke, kurz zusammengefasst, die Conditio humana. Man kann nachgerade von anthropologischem Dichten sprechen, sofern man bereit ist, den Begriff ‚Anthropologie‘ auszudehnen auf mehr als den streng wissenschaftlich-akademischen Bereich. Es zeigt sich der Unterschied zur akademischen Wissenschaft schon daran, dass einer der wichtigsten Begriffe aller zehn Elegien der des ‚Engels‘ ist. Damit sind nicht christliche Wesen gemeint (ob nun im theologischen oder im populären Sinn). Rilkes Engel sind eine Art Vermittler zwischen Immanenz und Transzendenz – dennoch (oder gerade deswegen) ist ihre Existenz problematisch. In diesen zehn Elegien wird die menschliche Existenz als eine grundlegend aufs Metaphysische angelegte dargestellt. Die daraus resultierende Spannung in der Conditio humana kann aber nicht (auf-)gelöst werden; jedes Mal, wenn in einer Elegie eine Lösung gefunden scheint, wird sie in der nächsten wieder als ihrerseits problematisch erkannt. Daraus ergibt sich eine Spannung, die letzten Endes nicht auflösbar ist. Das unterscheidet Rilkes poetische Dialektik von jener Hegels.
Vielleicht ist der im Gedicht allgegenwärtige Tod eine Auflösung dieses anthropologischen Rätsels. Vielleicht auch nicht.
Wie schon oben angedeutet: Die zehn Elegien beziehen sich auf einander, ihre Reihenfolge ist keine zufällige. Jede Elegie bietet sozusagen eine mögliche Lösung des Rätsels der Menschheitsfrage (wie es Karl May genannt hat). Jede folgende Elegie bricht dann mit der Lösung der vorher gehenden. Die letzte Elegie ist denn auch eine des Schmerzes und des Leidens. Jedes Glück, das der Mensch allenfalls erfährt, bestürzt ihn nachgerade. Das wird auch zu einem ästhetischen Wirkpunkt. Es kommt der Moment, wo sich selbst der Dichter Schweigen auferlegt. Die Elegien erinnern so an Wittgensteins sprachphilosophische Aussage, dass man schweigen muss, wenn man (in seinen die Conditio humana betreffenden Überlegungen) dort angekommen ist, worüber man nicht sprechen kann. Als Lyriker hat Rilke den Vorteil gegenüber Wittgenstein, dass er ein bisschen weiter ins Territorium des Unsagbaren vordringen kann – tentativ, versuchsweise. (Nein, ich behaupte nicht, dass Rilke den Tractatus logico-philosophicus gekannt hat. Wahrscheinlich eher nicht, denn Wittgensteins Text entstand zu genau derselben Zeit wie die Duineser Elegien. Beide aber, Rilke wie Wittgenstein, sind Kinder der untergehenden Habsburger Monarchie (Wittgenstein war allerdings ist ein bisschen jünger), sie sind Kinder eines im deutschen Sprachraums im Schwang stehenden Neukantianismus, der schon vor dem Wiener Kreis diese Einteilung in ein Erkennbares (und deshalb Benennbares) und ein Unerkennbares (und deshalb Unbenennbares, bestenfalls Zeigbares) stark betonte. Die Wege zur Lösung der Problematik von Immanenz und Transzendenz der beiden, Rilke und Wittgenstein, könnten unterschiedlicher nicht sein. Aber eine gewisse Neigung zu Metaphysischem bzw. Mystischen (die Otto Neurath Wittgenstein vorwerfen würde – Neurath, ein Kind derselben Monarchie, liegt zeitlich zwischen Rilke und Wittgenstein) ist bei beiden nicht zu leugnen. Persönlich ziehe ich diesbezüglich Rilke vor, weil er offen als Dichter agierte.
Das zeigt sich auch darin, dass alleine schon die Sprache der Duineser Elegien einen Genuss präsentiert. (Wie allerdings auch, nebenbei gesagt, wenn auch auf ganz andere Weise, die des Tractatus.)