Nun sind marxistische Ideen – vor allem die Grundkonzeption von einer gerechteren Welt, die für die Bedürfnisse aller Sorge trägt, nicht per se schlecht, sondern eher von einem etwas unrealistischen Menschenbild getragen. Die Rechnung ist im Grunde einfach: Gäbe es jenen Typus Mensch, mit dem die klassenlose Gesellschaft verwirklichbar wäre, würde man dieses Ziel auf die eine oder andere Weise längst erreicht haben. Entspricht dieser Typus jedoch nicht der Vorstellung, sind Zwang, Autokratismus und Gewaltherrschaft vorprogrammiert auf dem Weg zur klassenlosen Gesellschaft. Nun haben sich Marxisten jedweder Couleur gegen entsprechende Einwände immunisiert, weisen im Zweifelsfall auf das noch nicht entwickelte Klassenbewusstsein des Gegenüber hin und sprechen dem Betreffenden daher pauschal jegliches Urteilsvermögen ab: Er argumentiere aus einem falschen Bewusstsein heraus, weshalb es nicht notwendig ist, auf seine Argumente einzugehen.
Neben diesen Immunisierungsstrategien sind es vor allem die schwammigen Begrifflichkeiten, derer sich die Marxistin üblicherweise bedient und die sich durch diese Ungenauigkeiten einer Kritik entziehen: Rushkoff ist da keine Ausnahme. Vor allem wenn er von „dem Kapitalismus“ spricht, bin ich überfordert: Zwischen einem System, dass Milliardären die weitgehend steuerfreie Anhäufung ihres Vermögens erlaubt und der Freiheit für jedermann, ein beliebiges Unternehmen zu gründen, von dem er zu leben gedenkt (indem er Gewinn erzielt, Arbeitern und Angestellten einen angemessenen und das Überleben problemlos garantierenden Mindestlohn zahlt) liegen Welten. Von solchen Freiheiten halte ich ausnehmend viel – und wenn das der viel gescholtene Kapitalismus ist, dann muss ich mich wohl zu diesem System bekennen. Dass es zahlreicher Beschränkungen bedarf, ist ohnehin evident (selbst Staaten wie die USA haben klare Richtlinien bezüglich der Verhinderung von Monopolen oder der Steuergesetzgebung): Anstatt jedoch Schlupflöcher zur Umgehung der Bestimmungen zu stopfen, versucht der Staat (in Konkurrenz zu anderen Staaten) diese zu seinen Gunsten zu nützen. (Diese kurzsichtige und egoistische Dummheit ist in der EU augenfällig: Statt einheitlicher Richtlinien sucht jeder Mitgliedsstaat seinen eigenen Vorteil – auf Kosten der anderen, wodurch im Endeffekt alle zu Verlierern werden und den wenigen großen und finanzstarken Unternehmen in die Hände spielen, die sich dadurch ihrer steuerlichen Pflichten und der für alle gebotenen Solidarität entziehen.)
Das Problem bei Leuten wie Rushkoff ist die erwähnte begriffliche Ungenauigkeit: Selbstredend ist seine Kritik an den großen Tech-Unternehmen berechtigt, die Kritik an deren selbstgefälligen Eigentümern, die – wenn überhaupt – sich bestenfalls freiwillig und in ostentativ altruistischer Weise (wie etwa Bill Gates) auf ihre Pflichten gegenüber der Gemeinschaft besinnen. Dieser Philantropismus hat immer etwas widerlich Selbstgefälliges: Man erwirtschaftet durch Rücksichtslosigkeit und sich stets an der Grenze zur Legalität bewegend (bzw. diese überschreitend) ein riesiges Vermögen, um dann höchst gnädig und gönnerhaft nach eigenem Gutdünken den vorher um ihren gerechten Lohn Betrogenen Gutes angedeihen zu lassen. Wie erwähnt trägt daran weniger der Kapitalismus als solcher (als ein System, in dem jeder frei ist, sich unternehmerisch zu betätigen) Schuld, sondern politische Dummheit, Korruption und kurzsichtiger Eigennutz.
Rushkoff wird hingegen nicht müde, das kapitalistische System für alles Unglück dieser Welt verantwortlich zu machen – und er findet in guter linker Tradition einen weiteren Schuldigen: Die empirische Wissenschaft. Mit Bacon habe alles begonnen, die Ausbeutung der Natur, ihre Instrumentalisierung und die Aufklärung hätte den Menschen (und dessen Seele) endgültig des eigentlichen Menschseins beraubt, indem er ihn mittels rationaler Methoden analysiert und schließlich instrumentalisiert habe. Diese Technik- und Wissenschaftsfeindlichkeit wurde von rechten und linken Philosophen mit Hingabe zelebriert: Heideggers Holzwege und Adornos/Horkheimers Dialektik der Aufklärung bedienen sich derselben Klischees, während etwa Habermas sich bei Schelers Wissenslehre schadlos hielt und die Technik- und Wissenschaftsfeindlichkeit in seine „erkenntnisleitenden Interessen“ verpackte.
Auch Rushkoff stellt die dümmliche und die einfachsten philosophischen Prinzipien ignorierende Frage nach der Moral empirischer Wissenschaft. Diese Verwechslung von Kategorien sollte einem an der Universität Lehrenden eigentlich nicht passieren (die meisten, die sich solcher Fehler schuldig machen, wissen darum und benutzen sich aus egoistisch-polemischen Gründen): Die Relavitätstheorie ist genau so wenig moralisch wie die Schrödingergleichung unmoralisch. Für Rushkoff ist hingegen schon das empirisch-wissenschaftliche Denken eine der Grundlagen für Unmoral und Unglück dieser Welt, weil es den „spirituellen Faktor“ (was immer das sein soll: Rushkoffs Vorstellung hat sich mir nicht erschlossen) außer Acht ließe. Schließlich lässt er sich in seinem Bemühen, Wissenschaftler zu diskreditieren, zu Untergriffen hinreißen, die jedem schmierigen Boulevardblatt zur Ehre gereichen würden: Die von John Brockman gegründete Edge-Foundation hat immer wieder berühmte Wissenschaftler (etwa Richard Dawkins, Murray Gell-Mann, Lee Smolin, Paul Davies oder Daniel Dennett) eingeladen, zu allgemeinen (wissenschaftlich relevanten) Fragen Stellung zu nehmen. Berühmtester Geldgeber der Stiftung war ein gewisser Jeffrey Epstein, weshalb sich Rushkoff nicht entblödet, die betreffenden Wissenschaftler bzw. deren empirische (und deshalb instrumentalisierende) Denkweise in einen logischen Zusammenhang mit Epsteins Mädchenhandel zu stellen: Denn das sei es, wozu eine solche Haltung führe – zur Betrachtung des Menschen als Ware.
Solche „Argumente“ darf man mit Fug und Recht unkommentiert lassen (ich könnte mir aber durchaus vorstellen, dass die Darstellung im Buch rechtliche Konsequenzen für den Autor haben könnte): Sie sind aber beispielhaft für den irrationalen Furor, den dümmliche und kurzsichtige Wissenschaftsfeindlichkeit auslösen können. Dabei sind – wie schon erwähnt – einige Überlegungen durchaus zutreffend (was aber wohl mehr-weniger unausweichlich ist; wenn man mit Farbkübeln auf Zielscheiben wirft, wird man irgendwelcher Treffer kaum vermeiden können): So etwa der Hinweis, dass der Umwelt weniger durch E-Autos gedient ist, als durch ein Überdenken der Mobilität an sich bzw. dadurch, Autos schlicht möglichst lange zu fahren (noch besser: Welche – wenn überhaupt nötig – zu bauen, die eine Lebensdauer von 50 oder mehr Jahren aufweisen, was technisch durchaus realisierbar ist). – Insgesamt ist das Buch aber großteils polemisch und substanzlos, argumentativ nicht viel besser als das von ihm kritisierte Geschwalle der Tech-Milliardäre über die Zukunft der Menschheit.
Douglas Rushkoff: Survival of the Richest. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 2025.