Yanick Lahens: Mondbad [Bain de lune]

Links und rechts zwei dünne weiße Streifen. In der Mitte die von Midjourney erstellte oder bearbeitete Fotografie einer jungen schwarzen Frau, die in einer gelb-weiß geblümten Seidenbluse in einem Wasserstrudel liegt. Es werden nur ihr Mund, ihr Kinn und ihre linke Schulter gezeigt. - Ausschnitt aus dem Buchcover.

Yannick ist für meine Ohren eigentlich ein männlicher Vorname; Yannick Lahens allerdings ist eine haitianische Schriftstellerin. Geboren 1953, Studium der Literaturwissenschaft in Paris, Dozentin für Literatur an der École Normale Supérieure in Port-au-Prince (der Hauptstadt Haitis, wo sie auch aufgewachsen ist – mit „École Normale Supérieure“ werden in Frankreich und seinen ehemaligen Kolonien Ausbildungsstätten auf Universitätsniveau bezeichnet) und … und … und …

Hierzulande ist sie eher weniger bekannt (wie ja praktisch alle Autor:innen aus Haiti). Der vorliegende Roman gewann 2014 den Prix Femina. Auch der ist wohl hierzulande eher weniger bekannt. Es handelt sich dabei um einen der renommiertesten französischen Literaturpreise. Er wurde 1904 von 22 Mitarbeiterinnen einer Frauenzeitschrift ins Leben gerufen, die der Meinung waren, der schon existierende Prix Goncourt sei misogyn – will sagen: benachteilige schriftstellende Frauen. Tatsächlich sollte es bis 1944 dauern, dass die erste Frau den Prix Goncourt erhielt. Seit Beginn besteht die Jury des Prix Femina ausschließlich aus Frauen; allerdings wurde schon 1905 mit Romain Rolland der erste Mann ausgezeichnet.

Ich bin versucht, Mondbad als ‚Familiensaga‘ zu bezeichnen, wenn nicht der für eine Saga dann doch recht geringe Umfang dieses Romans (etwas über 200 Seiten) wäre. Das ist beileibe kein Manko, im Gegenteil. Man könnte von einem ‚Kondensat einer Familiensaga‘ sprechen. Ähnlich wie die Brühwürfel, die man ins Wasser wirft und so verdünnt zu einer Suppe kommt. Nur, dass man dieses Buch nicht ins Wasser werfen sollte. Obwohl … Wasser spielt in der Geschichte eine nicht unwichtige Rolle …

„Kondensat“ will sagen: Der Roman weist außer der Länge alle Merkmale einer Familiensaga auf. Lahens erzählt über mehrere Generationen hinweg die Geschichte zweier Großfamilien irgendwo im ländlichen Haiti. Es sind dies die Lafleur und die Mésidor. Die Familie Lafleur ist arm, ihre Mitglieder sind Schwarze. Die Familie Mésidor hingegen regiert; sie besitzt praktisch das ganze umliegende Land. Im haitianischen Sprachgebrauch bezeichnet man die Mitglieder solcher Familien als Mulatten, was nicht pejorativ gemeint ist, sondern eine historisch bedingte Bezeichnung für die haitianische Oberschicht, die ursprünglich tatsächlich aus den Sprösslingen von Weißen mit den dunkelhäutigen ehemaligen Sklaven bestand, aber zum Zeitpunkt des Romans unabhängig von der Hautfarbe für die Reichen und Herrschenden verwendet wird.

Der Roman fängt damit an, dass eine am Strand halb im Wasser liegende Frau zunächst ihre eigene Situation schildert. Solche Abschnitte werden im Verlauf der Erzählung immer wieder eingeschoben und so erfahren wir Lesenden nach und nach, warum diese Frau nun am Strand liegt. Sie sind in der Ich-Form geschrieben und jeweils kursiv wiedergegeben. Die anderen Kapitel – sie sind in der Mehrzahl – machen die Geschichte der beiden Familien aus. Schon rasch wird klar, dass die Armen immer verlieren werden. Lahens gibt keine genauen Daten an. An Hand gewisser Eckpfeiler lässt sich die Geschichte aber recht gut einordnen. Was wir erfahren: Die ersten Teile der Familiensaga wickeln sich ab, nachdem die US-Amerikaner 1934 wieder von Haiti abgezogen sind, aber bevor François Duvalier sich als „Papa Doc“ zum Diktator aufschwingt. Es ist eine Zeit der Unsicherheit, in der allerdings eines sicher ist: Die Armen, die Mitglieder der Familie Lafleur, verlieren immer; die Reichen, die Mitglieder der Familie Familie Mésidor, gewinnen immer. Wir erfahren im Lauf des Romans, wie die Herrschaft von François Duvalier die Machtverhältnisse auch bei den Bauern auf dem Land, weit ab von Port-au-Prince, verändert, nachdem der Clan-Chef der Mésidor beim Ringen um die Macht im Staat zunächst aufs falsche Pferd gesetzt hat. Er kriegt zwar noch die Kurve, hat aber an Einfluss verloren. Der Roman endet damit, dass – nach einem kurzen Interregnum, in dem die Macht neu verteilt werden musste – wieder mit Hilfe der USA Jean-Claude Duvalier das Regime seines Vaters fortsetzt. Nach einem kurzen Moment der Freude wird den Armen klar, dass auch „Baby Doc“ sich nicht an seine Versprechen hält und sie auch dieses Mal die Verlierer sind. Diese historischen Ereignisse werden in der Wir-Form erzählt, ohne dass Yannick Lehans je definiert, wer „wir“ genau ist – außer natürlich, dass es ganz klar die Armen Haitis sind. Dieser schriftstellerische Trick gibt der Geschichte etwas Allgemeingültiges, über die beschriebenen Ereignisse Hinausgehendes.

Faszinierend am vorliegenden Roman war für mich, dass wir einen tiefen Einblick erhalten in den Alltag der armen Leute auf Haiti. Ihr Leben, ja selbst ihr Tod, ist durchdrungen von ihrem Glauben an unzählige Voodoo-Gottheiten. Die katholischen Priester werden toleriert, aber nicht ernst genommen. (Der christliche Gott ist – unter dem Titel Großmeister – in das System der Voodoo-Gottheiten integriert. Was mich daran erinnert: In vielen Romanen, allerdings nicht in diesem hier, wird oft erzählt, dass diese oder jene Aufgaben, die für Anhänger:innen des Voodoo-Glaubens gefährlich sein könnten, an Freimaurer übergeben werden, weil diese nicht an (Voodoo-)Gottheiten glauben, weshalb die Voodoo-Gottheiten ihnen nichts anhaben können. Ob zwischen dem Titel des christlichen Gottes und diesem Volksglauben ein Zusammenhang besteht, kann ich nicht sagen.)

Zusammengefasst: Der Roman eröffnet uns einen Blick auf das ländliche Haiti in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts. Sehr komprimiert, aber auch sehr faszinierend, schildert Yannick Lahens das Leben zweier Großfamilien, ihre Auseinandersetzungen untereinander und mit dem Rest der Welt. Wer meint, zweihundert Seiten reichen nicht für eine spannende Familiensaga, wird von der Autorin eines Besseren belehrt. Dazu kommt ihre sehr geschickt eingesetzte Erzähltechnik, in der zwei von einander zunächst unabhängige Erzählstränge mehr und mehr zusammen geführt werden. So erhalten wir als Lesende nicht nur ein sehr informatives Bild der Gesellschaft auf Haiti, sondern können uns auch noch an einer schönen literarischen Komposition erfreuen.

Anders gesagt: Wer eine Familien-Saga sucht, bei der man nicht gleich unzählige Bände mit unzähligen Seiten zu lesen braucht, ist bei Yannick Lahens‘ Mondbad genau richtig.


Yanick Lahens: Mondbad. Aus dem Französischen von Jutta Himmelreich. Trier: Litradukt, 2025.

Wir danken dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

Ansichten seit Veröffentlichung bzw. 17.03.2025: 26

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