Mit der Verleihung des Nobelpreises für Literatur an die südkoreanische Autorin Han Kang ist Mitteleuropa wohl im Allgemeinen auf die südkoreanische Literatur aufmerksam geworden. Man hat realisiert, dass aus jener Gegend nicht nur der oft seelenlose K-Pop stammt. So rückten auch anderes Genres als nur ‚Hochgebirgsliteratur‘ in den Fokus europäischer (oder hier genauer: deutscher) Verlage. Vielleicht als eine Art Versuchsballon hat nun letztes Jahr auch der Verlag Memoranda eine kleine Anthologie mit südkoreanischen Science Fiction-Geschichten herausgebracht. (Memoranda ist der Mutter-Verlag von Carcosa. Von letzterem haben wir hier auch schon ein paar Bücher vorgestellt – vorwiegend Klassiker der Science Fiction.)
Nun ist es, wie ich finde, immer so eine Sache mit Anthologien. Die Qualität der einzelnen Beiträge ist naturgemäß etwas durchzogen und deshalb nur bedingt aussagekräftig. Als Lesende sind wir den Herausgebenden solcher Sammlungen mehr oder weniger auf Gedeih und Verderben ausgeliefert. Was ich hier also über die einzelnen Kurzgeschichten (denn um solche handelt es sich) sagen werde, muss nicht für die Werke ihrer Verfasser:innen im Ganzen stimmen; noch ist das Bild der südkoreanischen Science Fiction, das ich daraus gewonnen habe, unbedingt korrekt für das gesamte Genre in Südkorea.
Ich werde im Folgenden einen kurzen Blick auf jede Geschichte der Sammlung werfen. Ich versuche dabei, möglichst wenig vom Inhalt zu verraten, das ist aber nicht immer möglich. Wer also nicht ‚gespoilert‘ werden will, wie es Neudeutsch so schön heißt, soll doch bitte erst wieder den letzten Abschnitt lesen.
Kim Bo-Young: Die Sterne leuchten am Erdenhimmel
Formal ein Brief einer namenlos bleibenden jungen Frau an ihren Bruder. Die Frau leidet an Katalepsie. Als einziges Heilmittel gibt es in ihrer Welt die Möglichkeit, die daran leidenden Menschen gnadenlos aus ihrer Ohnmacht zu holen. Dennoch ist ihre Lebenserwartung gering: gerade einmal 30 Jahre. Die junge Frau ist von zu Hause ausgerissen. Sie hat eine einsame Insel gefunden und dort eine Kiste. In diese Kiste zieht sie sich nun zurück, wenn sie einen Anfall von Katalepsie sich nähern fühlt. Trotz ihrer Abgeschiedenheit hat sie davon gehört, dass eine Sternwarte eine Botschaft von Außerirdischen aufgefangen hat. Der einzige Satz, den man entschlüsseln konnte, war der, der nicht nur Kims Kurzgeschichte den Titel gegeben hat, sondern der ganzen Anthologie. Es kommt nicht zu einer Begegnung mit den Außerirdischen, aber Kim Bo-Young gelingt es, der Geschichte zum Schluss einen interessanten Dreh zu geben.
Djuna: Pentagon
Auch hier erfahren wir erst im Lauf der Geschichte, was geschehen ist, weshalb die Ereignisse so ablaufen, wie es uns erzählt wird, und warum genau dieser Titel gewählt wurde. Das macht die Geschichte zwar recht spannend und interessant; allerdings hatte ich hier – mehr noch als bei der ersten Geschichte – das Gefühl, ein Musterbeispiel einer Geschichte zu lesen, wie sie in Kursen für ‚Creative Writing‘ gefordert bzw. vorgegeben werden. Anders gesagt: Die Geschichte ist allzu rund, um wirklich zu faszinieren. Man nickt, nimmt deren Kunstfertigkeit zur Kenntnis und geht weiter.
Lee Sanhwa: Neustart
Eine unkontrollierbar gewordene Kapsel mit zwei Astronauten an Bord rast bei der Heimkehr aus dem All auf eine Abschussstelle für Atombomben zu – der sichere Tod nicht nur für die beiden Insassen sondern für Millionen von Menschen. Der Schluss erscheint auf den ersten Blick logisch und schlüssig, auf einen zweiten bin ich mir nicht so sicher. Es ist hier ein wenig wie in den Kriminalromanen, wo die Ermittelnden die Täterschaft nur ausfindig machen können, weil die Schreibenden das Ganze genau so konstruiert haben, dass die Geschichte aufgeht und das dann als ‚logisch‘ verkaufen.
Lee Seoyoung: Ein Hauch von Vintage
Der nun schon sechs Jahre lang funktionierende Sex-Roboter der Protagonistin und Ich-Erzählerin funktioniert nicht mehr. Wir folgen ihr in dieser Geschichte auf ihren Irrwegen und sexuellen Eskapaden, bis sie zu ihrem reparierten Roboter zurückfindet. Die Sexualakte werden relativ ausführlich beschrieben, ohne je zu Pornografie zu werden. Leider, muss ich sagen, denn das wäre mindestens etwas gewesen. Seien wir ehrlich: Sex auf dem Papier ist etwas vom Langweiligsten und oft ungewollt komisch. Und über die Gefahren und Risiken von Sex mit bzw. Liebe zu Robotern hat schon Isaac Asimov geschrieben – besser als Lee.
Bora Chung: Eine ganz normale Ehe
Der Ich-Erzähler beginnt sich zu fragen: Bin ich mit einer menschlichen Frau verheiratet oder mit einer Ausserirdischen? Die Geschichte sollte wohl ein bisschen Grusel-Horror verbreiten, aber Bora schafft es nicht ganz.
Park Seolyeon: Sisff
Der Film Men in Black lässt grüßen: Ein außerirdisches Wesen sucht politisches Asyl auf der Erde. Zu einem gewissen Zeitpunkt von dessen Aufenthalt wird eine größere Anzahl Kulturschaffender eingeladen zu Interviews mit ihm. Die Geschichte plätschert lustlos vor sich hin und zum Schluss fragt man sich tatsächlich: Was wollte uns die Autorin damit sagen?
Jeon Samhye: Genesis
Alles Leben auf der Erde wird von einem Kometen zerstört. Einzige Überlebende der Katastrophe ist eine junge Frau auf einer Mondbasis. Sie schreibt nun ihre Erinnerungen nieder an ihre Ausbildung und an ihre Mitschülerin, in die sie verliebt war und über deren Gegenliebe sie sich nicht sicher ist. In einem Jugendbuch wäre die Geschichte allenfalls am Platz gewesen.
Ganz allgemein:
In ihrem Nachwort findet die Co-Herausgeberin Sylvana Freyberg als einen der wichtigen Unterschiede zwischen asiatischer Science Fiction und europäisch-westlicher, dass in ersterer die so genannte Quest völlig fehle – der Auszug des oder der Helden (sie sind in der Geschichte aller Literaturen, die ich kenne meist männlich) , um ein wie auch immer geartetes Ziel zu erreichen. An deren Stelle, so Freyberg, verdienen sich die Helden ihren Status durch ihren Dienst an der Gemeinschaft. Damit will sie wohl auch das Typische der vorliegenden Geschichten zusammenfassen. Sie übersieht aber, dass es fast unmöglich ist, in einer Kurzgeschichte eine Quest zu entwickeln. Auch westliche Kurzgeschichten im Genre Science Fiction verzichten darauf. Wie mich überhaupt die ganze Anthologie hier an eine erinnert, die ich vor Jahrzehnten einmal gelesen habe, von (damals jungen und unbekannten) US-amerikanischen Autor:innen. Ich finde im Vergleich der vorliegenden Anthologie mit meiner Erinnerung an jene von damals keine großen literarischen Unterschiede oder Weiterentwicklungen, müsste aber jene wieder auftreiben, denn ich besitze sie schon lange nicht mehr. Außerdem ist die Quest als Topos eher ein Phänomen der Fantasy als der Science Fiction, auch wenn die Grenzen natürlich fließend sind. Und so ist mir zumindest mit der Reise in den Westen ein im 16. Jahrhundert u.Z. geschriebener chinesischer, also aus Asien stammender Klassiker bekannt, der (auch) als Fantasy und auch als (komischer) Bericht über eine Quest gelesen werden kann. Gleichgeschlechtliche Liebe oder halbwegs expliziter Sex mit einem Roboter sind, finde ich, im 21. Jahrhundert nachgerade trivial. Das Buch hat meine Neugier zumindest teilweise befriedigt – nämlich die, wissen zu wollen, was in Südkorea sonst so geschrieben wird. Aber ich fürchte, zumindest auf dem Gebiet der Science Fiction ist der US-amerikanische Einfluss zu groß für wirklich selbständiges Schreiben wie es eben von der Nobelpreisträgerin vorexerziert und von den Herausgeberinnen dieser Anthologie zumindest postuliert wird.
Die Sterne leuchten am Erdenhimmel. Science Fiction aus Südkorea. Herausgegeben von Sylvana Freyberg, Alexandra Dickmann & Jaewon Nielbock-Yoon. Übersetzt von Alexandra Dickmann, Andrea Margot Koschan, David Röttger, Mareike Urbanek & Julia Zachulski. Berlin: Memoranda, 2024.