Worüber auch die Aufzeichnungen des Dr. Watson schweigen …
(Wer das Buch noch nicht kennt und bei einem Kriminalroman nicht gern die Lösung im voraus weiss – und es handelt sich bei diesem Buch [auch] um einen Krimi – sollte die letzten beiden Abschnitte vielleicht eher nicht lesen.)
1886 wurde Sherlock Holmes nach Rio de Janeiro berufen, um einen Frauenmörder zu finden, der nachts herumgeht, bewaffnet mit einem Dolch und einer – Geigensaite. Die er, nach vollbrachter Tat, auf den Schamteilen seiner Opfer drapiert. Das klingt nach einem einfachen Fall für Holmes, doch dieser hier entpuppt sich als völlig verschieden von denen, die er aus seinem heimatlichen London kennt. Denn hier sieht sich der Meisterdetektiv mit mehr als nur der Intelligenz seines Gegners konfrontiert. (Obwohl der an Intelligenz und Dämonie Holmes‘ Hauptschurken Moriarty problemlos übertrifft.)
Dem viktorianischen Engländer steht das ganze Land gegenüber. Jô Soares schildert Brasilien in seiner grössten Zeit, einer Zeit, nach der viele selbst noch heute Heimweh empfinden: das Brasilien der Belle Époque, der Kaiserzeit. Der Roman bewegt sich vor allem in dessen Hauptstadt, Rio de Janeiro. Die ist grell, bunt, laut, voller Sklaven, voller Dreck. Eine Stadt, in der sich die weisse Haute Volée nur mit parfümierten Taschentüchern vor der Nase bewegt, weil – keine Kanalisation vorhanden ist. Kein Wunder, ist Holmes – dazu noch ohne Kenntnisse der portugiesischen Sprache – verloren.
Soares macht sich liebevoll über den Europäer lustig, der glaubt, in Brasilien müsse alles so ähnlich sein wie in seiner Heimat, nur, weil Brasilien ja eine (ehemalige) Kolonie ist. So ist es natürlich nicht. Schon das Essen ist völlig verschieden – derart verschieden, dass Holmes, der einmal zu viel und zu scharf gegessen hat, im Grunde genommen für den Rest des Buchs (und das umfasst immerhin etwas über 300 Seiten in meiner Übersetzung) – für den Rest des Buchs also ist Holmes nicht nur mit den Problemen seines Kriminalfalls beschäftigt, sondern mindestens ebenso mit denen seiner Verdauung. Denn das scharfe und fettige Essen, das die Brasilianer von ihren Sklaven übernommen haben, kann durchaus purgierende Wirkung entfalten – zusammen mit dem selbst in Grossstädten nicht immer sauberen Wasser sowieso. Das war ja auch noch im Jahr 1995, als Soares dieses entzückende kleine Büchlein schrieb, der Fall. Der andere Europäer, Dr. Watson, fällt dafür in die andern Fallen, die Klima und Bevölkerung dem einwandernden oder zu Besuch kommenden Weissen zu bieten haben: Frauen, Sex und Vodoo.
Und so taumeln die beiden durch den bunten Bilderreigen Rio de Janeiros. Ziemlich hilflos, so gar nicht dem Bild des Duos entsprechend, das Dr. Watson uns via Arthur Conan Doyle überliefert hat. Sherlock Holmes‘ Versuche, professionell zu bleiben bzw. zu scheinen, werden immer wieder zunichte gemacht von plötzlichen Attacken heftigen Bauchgrimmens, das unausweichlich zu einer Auslösung gebracht werden muss, und somit Holmes‘ Energie von der Suche nach dem Mörder abzieht auf die Suche nach – einem WC.
Verrate ich zu viel, wenn ich sage, dass Holmes den Fall nicht löst, sondern unverrichteter Dinge das Schiff zurück nach England besteigt? Zusammen gar mit dem Serienmörder, den der Leser nämlich unterdessen kennt? Dass der Serienmörder in England Sherlock Holmes weiter herausfordern wird (nämlich als Jack the Ripper)? Ja? Dann lesen Sie doch diesen Abschnitt nicht.
Alles in allem eine vergnügliche Lektüre, die den Hochmut des Europäers gegenüber einem Entwicklungs- oder Schwellenland köstlich karikiert. Die dem bis heute gern viktorianisch prüden Protestanten (wie er gerade in den USA wieder ein Hochblüte erlebt) einen Spiegel vorhält. Und die ganz einfach voll prallen Lebens ist, auch und gerade weil es darin um einen Mörder geht.