Herausgegeben von Ulrich Joost und Albrecht Schöne. München: C. H. Beck, 1983.
Es ist so eine Sache um Briefwechsel. Sie haben oft etwas sehr Intimes, weil nicht jeder wie Arno Schmidt den seinen mit Hans Wollschläger von Anfang an für eine Veröffentlichung vorsieht. Selbst Goethe überkam der Plan zur Publikation seines Briefwechsels mit Zelter erst gegen Ende desselben, wo er dann von Zelter seine Briefe zum Abschreiben einverlangte. Von Lichtenberg nun gibt es Schreiben, in denen er seine Briefpartner bzw. deren Erben ganz klar dazu auffordert, seine Briefe zu vernichten oder ihm zur Vernichtung zuzusenden, weil gar zu viel Privates drin steht:
„Ich bin ehmals mit dem verstorbenen HE. Kaltenhofer in einer sehr vertrauten Correspondenz gewesen, und da er, wie mir HE. Prof. Meister sagt, alle meine Briefe aufgehoben haben soll, die übrigens von gar keinem Gebrauch sind, als etwa dem, den mein Feind davon machen könnte, so wünsche ich sehr, dass Ew. Wohlgeboren, da es gänzlich von Ihnen abhangen wird doch möglichst verhindern, daß nichts davon Public wird oder es dahin bringen, daß mir die Briefe zurückgegeben werden.“ (2.6.1777)
Es gibt weitere, ähnliche Dokumente. Sie alle zeigen nicht nur das Widerstreben Lichtenbergs dagegen, dass Intimes an die Öffentlichkeit gezerrt werde, sie zeigen auch den „Politiker“ Lichtenberg, der sich sehr bewusst ist, dass seine berufliche Karriere von privat gemachten, dummen Bemerkungen empfindlich ge- oder gar zerstört werden kann. Nichts kann ihn mehr ärgern, als wenn sein Kollege Kästner private Bemerkungen aus einem Brief im Druck als seine (Lichtenbergs) Meinung ausposaunt. (Überhaupt haben die beiden – Kästner ursprünglich der Lehrer, Lichtenberg sein Student, danach Amtskollegen – das Heu selten auf der gleichen Bühne. Immer wieder treffen wir im Laufe des Briefwechsels auf einen Lichtenberg, der sich gegen die mehr oder weniger gut gemeinte Bevormundung seines älteren Kollegen wehren muss. Diplomatisch wehren muss, denn es wäre von Übel, sich öffentlich gegen Kästner zu stellen, auch empfindet Lichtenberg wohl nach wie vor grossen Respekt für seinen ehemaligen Lehrer.)
Dieser Scheu Lichtenbergs vor zu viel Öffentlichkeit trug übrigens auch noch die erste Sammlung Briefe von und an ihn Rechnung, die von Lichtenbergs Sohn herausgegeben wurde, und in der vieles wegredigiert wurde. Das ist einerseits für uns interessierte Nachwelt schade, andererseits hätten wir ohne diese Ausgabe von gewissen Briefen gar keine Spur mehr, sind doch viele Originale in den Wirren des Zweiten Weltkriegs verschwunden bzw. wahrscheinlich zerstört worden. Die vorliegende Sammlung des Verlags C. H. Beck umfasst alle Spuren, die sich noch auffinden lassen – manchmal auch nur Hinweise der Empfänger in Briefen an Dritte. Im Übrigen sind die Briefe nach Möglichkeit chronologisch angeordnet. Die Anmerkungen folgen den Briefen immer unmittelbar, was dem Leser einiges Blättern erspart. Wichtige, wiederkehrende Begriffe und Personen sind in einem separaten, je einen Band umfassenden Sach- bzw. Personenregister erklärt. Der erste Band von Lichtenbergs Briefwechsel zeigt uns den jungen Studenten und den Professor in seinen ersten Dienstjahren.
Wir erleben, wie er eine Berufung als Professor der Mathematik nach Darmstadt akzeptiert, den Posten aber nie antritt, sondern lieber in Göttingen lehrt. Wir erleben es, will sagen: Lichtenberg thematisiert es nirgends in seinen Briefen. Er ignoriert einfach sämliche hessisch-darmstädtischen Befehle, endlich anzutreten. Nun, Lichtenberg stammte von dort, und er schätzte wohl seinen Möchtegern-Brötchengeber, Ludwig IX. von Hessen-Darmstadt, richtig genug ein, um keine Anstellung unter ihm zu wünschen. Er war da glücklicher als Merck, dem es nicht gelang, aus hessisch-darmstädtischen Diensten zu entkommen und entsprechend unter den Allüren seines Landgrafen litt. (Merck hat ja bekanntlich auch Wieland dazu überredet, eine schlechte Kritik an Lichtenbergs Persiflage der Lavater’schen Physiognomie durch eine zweite, bessere zu relativieren, denn Merck war, auch aus persönlichen Gründen – er hoffte, von Lichtenbergs guten Kontakten in London profitieren zu können – an einem ungetrübten Verhältnis zu Lichtenberg interessiert. Im ersten Band von Lichtenbergs Briefwechsel findet sich allerdings diesbezüglich nur ein Brief Lichtenbergs an einen Dritten, in dem er den Kurswechsel des Teutschen Merkur befriedigt, aber beiläufig, zur Kenntnis nimmt.)
Daneben ist es aber faszinierend, zu nachzulesen, wie der zum Teil wohl wirklich kränkliche, zum Teil wohl auch nur hypchondrische Lichtenberg in kürzester Zeit die Welt erobert. Er arbeitet als Vermesser von Teilen Braunschweig-Lünebergs, reist dann nach London, zu seinem Landesherrn, George III., der ja bekanntlich auch noch Kurfürst von Braunschweig-Lüneburg war. Welch ein Unterschied zwischen dem Besuch des verwachsenen Physikers, der in kürzester Zeit zu Privataudienzen beim König und seiner Gemahlin vorgelassen wird, zum praktisch gleichzeitigen des Möchtegern-Kaufmanns Hamann, der sich in London de facto als Zech- und Mietbetrüger durchschlägt, weil ihn kein Schwein unterstützen will! (Dabei fürchtete sich Lichtenberg im Grunde genommen vor Allem und vor Jedem. Es ist ja nicht Werbung für die Fortschritte der Physik, die ihn veranlasst, als erster in Göttingen auf seinem Gartenhaus einen Blitzableiter zu installieren. Er nennt ihn denn auch „Furchtableiter“…) Erst 1776, das sind 6 Jahre nach seiner Berufung zum Professor, wird Lichtenberg zum ersten Mal in Göttingen Vorlesungen halten. Er ist dabei der erste Experimentalphysiker seiner Zeit, indem er z.B. immer wieder mit seinen Studenten aufs Feld geht, um dort den Franklin’schen Drachen steigen zu lassen. Damit macht er Sensation, der Zulauf zu seinen Vorlesungen ist immens. Er hütet und betreut junge Engländer, die in Göttingen studieren und Deutsch lernen sollen. Er schreibt in diversen Zeitschriften zu diversen Themen – von der Physiognomik bis zum Sonnenbaden.
Seine Briefe widerspiegeln diese immense Weitläufigkeit. So nebenbei erfahren wir auch vom Auffinden der sog. Lichtenberg’schen Figuren, hinter denen die Entdeckung der positiven und der negativen Elektritizät steht, die wir (inkl. Benennung!) Lichtenberg zu verdanken haben.
Lichtenberg ist ein sehr einfühlsamer Briefschreiber. Er passt Stil und Inhalt seiner Post dem jeweiligen Empfänger an. An Johann Christian Dieterich, seinen Freund und Verleger in Göttingen, und dessen Frau und Töchter schickt er Briefe voller Ironie und Neckereien, an seinen Amtskollegen und Lehrer Kästner sachliche Briefe mit Informationen über Land und Leute. Seine amtlichen Briefe sind im zeitüblichen amtlichen Tonfall gehalten.
Es ist eine Lektüre, die einem den jungen Lichtenberg sehr nahe bringt. Man staunt darüber, mit welcher Leichtigkeit Lichtenberg als Physiker wie als Publizist an Ruhm gewinnt, und wie wenig er sich daraus zu machen scheint. Nur den Privatmenschen Lichtenberg treffen wir kaum. Die Frau, mit der er seit längerem zusammenlebt, wird höchstens in Nebensätzen gestreift, selbst in den Briefen an Dieterich. Lichtenbergs Diskretion wirkt über sein Leben hinaus.
4 Replies to “Georg Christoph Lichtenberg: Briefwechsel. Band I: 1765-1779”