»I bin doch ned deppat, i fohr wieder z’haus!«, mit diesen Worten dreht sich der österreichische Thronfolger in Sarajewo nach dem ersten gescheiterten Attentatsversuch (28. Juni 1914) auf dem Absatz um und fährt wieder nach Hause. (Klappentext)
Das hat Konsequenzen. Bzw.: eben keine Konsequenzen. Der Erste Weltkrieg fällt aus. Weil der Erste nicht stattfand, gibt es auch keinen Grund für den Zweiten. Dafür hat sich das labile Gleichgewicht der europäischen Grossmächte bis ins 21. Jahrhundert erhalten. Erhalten hat sich die Neutralität der USA, die im übrigen als merkwürdiges politisches Experiment in Sachen Republikanismus gelten, durchgeführt von hinterwäldlerischen Cowboys und Indianern. Erhalten haben sich die Regierungsformen, erhalten haben sich die regierenden Häuser. Erhalten haben sich die Kolonien, erhalten hat sich vor allem der Status von Wien als Nabel der Welt. (Jedenfalls in den Augen seiner Bewohner.) Da die USA nicht die Rolle des Weltpolizisten übernommen haben, hat auch die englische Sprache ihre globale Wirkung verpasst. Es gibt keine Anglizismen, so heisst z.B. das Notebook in Wien einfach „Klapprechner“. Da der Erste Weltkrieg nicht stattfand, gab es auch keine Russische Revolution. Die Revolutionäre, Lenin und Trotzki vor allen, verbrachten ihr Leben im Exil als Autoren von Science-Fiction-Büchern. (Die selbstverständlich nicht „Science Fiction“ hiessen!) Da die beiden Weltkriege nicht stattfanden, bestand für die deutschen Ingenieure, die die Raketentechnik entwickelten, kein Grund für eine militärische Anwendung derselben. Stattdessen konzentrierte man sich auf die zivile – mit dem Resultat, dass bereits in den 1940ern Kolonien auf dem Mond gegründet wurden. Der Mond ist deutsch; Deutschland die wissenschaftlich führende Nation; Deutsch die Sprache der Wissenschaft.
Last but not least haben keine Judenverfolgungen stattgefunden, und so ist Wien, der Schauplatz dieses bizarren Romans, in vielem nach wie vor eine jüdische Stadt. Stefan Zweig starb 1964 betagt in Wien. Auch Sigmund Freund blieb der Gang ins Exil erspart. Seine berühmte Couch wird dementsprechend im Freud-Museum in Wien ausgestellt, in London ist nichts. Überhaupt ist die Freud’sche Psychoanalyse auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts nach wie vor die führende und einzig anerkannte Methode zur Heilung von psychischen Erkrankungen.
Vor diesem Hintergrund verfolgen wir in diesem Roman das Leben einer Handvoll Einwohner Wiens. Da sind David und Barbara Gottlieb, beides Juden. Sie steht im besten Alter und führt einen literarischen Salon in der alten Tradition der Jüdinnen, die irgendwann damals in Berlin begonnen hat, und nun in Wien weitergeführt wird. Er ist Hofastronom und wird sich im Laufe des Romans auf den Mond begeben, ins dortige Observatorium. Das macht den Weg frei für eine intime Romanze Barbaras mit dem jungen Russen Alexej von Reppin. Das Leben dieser Leutchen könnte im Grunde genommen ewig so weiter plätschern, wenn nicht die Deutschen in ihrem Mond-Observatorium eine fatale Entdeckung gemacht hätten: Ein Komet steuert auf die Erde zu und wird nach ihren Berechnungen in der Nähe von Wien einschlagen. Ähnlich wie sein Vorgänger zu Zeiten der Dinosaurier wird dieser Komet alles Leben auf der Erde auslöschen. Wien macht sich für die Apokalypse bereit – so, wie sich eben Wien für eine Apokalypse bereit macht…
Der Roman wimmelt von Anspielungen auf das reale 20. und 21. Jahrhundert, was an und für sich schon recht amüsant ist. So, wenn ein gewisser György Lucasz als höchst erfolgreicher Autor von – Opern genannt wird. Wirklich amüsiert aber habe ich mich über das grundsätzliche Gedankenspiel. Natürlich verharmlost Stein die tatsächliche Rolle des tatsächlichen Anti-Semitismus österreicherischer Provenienz. Der wohlgelittene und parteilich organisierte Anti-Semitismus Wiens war nicht so harmlos, wie er im Roman herüberkommt. Auch der Ausgleich zwischen den verschiedenen Nationen in der Doppelmonarchie wäre wohl selbst ohne das Attentat nie so schön gelungen, wie im Roman, wo aus der Doppelmonarchie im Grunde genommen eine Quadrupel-Monarchie geworden ist, alles im Zuge des Ausgleichs der Nationen. Stein hat übrigens nicht einfach die Inhalte des frühen 20. Jahrhunderts dem frühen 21. zugeschrieben. So gibt es z.B. in Österreich (allerdings nicht in Ruthenien!) die Homosexuellen-Ehe als etwas Selbstverständliches. Der Zar hat eine Duma zugelassen, und der Präsident der (Dritten!) Französischen Republik ist ein Schwarzer. Dennoch liegt ein leiser Hauch von Nostalgie über dem Roman. Aber wer, wie ich, ein Faible hat für „Wittensteins’s Vienna“, für Kakanien im allgemeinen, wird sich in amüsieren können.
Ich stimme mit dir weitgehend überein: Der Roman hat einen eigentümlichen Charme, die Anspielungen sind fast immer geistreich (Stalin als Nationalpoet von Grusinien), nur den Anverwandten von Hitler (einem Enkel des an delirium tremens gestorbenen Postkartenmalers) und jene von Stalin haben eigentümliche Träume über Weltuntergangsszenarien, Judenvernichtung oder sibirischen Straflagern. Aber das alles ist unaufdringlich und – ja – amüsant.