Titel und Untertitel liessen mich einen Reisebericht erwarten, aber da wurde ich enttäuscht. Die Enttäuschung hält sich in Grenzen, denn was ich vorfand, ist ebenfalls sehr interessant. Wir haben hier nämlich eine Sammlung von Essays vor uns, die, Friedrich Sellows Leben als Leitfaden benutzend, einen polyhistorisch ausgelegten Beitrag liefert zu so verschiedenen Themen wie der Geschichte Brasiliens, der Geschichte der Wissenschaften und Entdeckungsreisen; aber auch im weitesten Sinne künstlerische Betätigungen kommen zu ihrem Recht: Die Geschichte der Autobiografie wird ebenso gestreift wie Zeichnen oder Gartenbaukunst. Und last but not least stellt das Werk auch eine Biografie des begabten jungen Gärtners Friedrich Sellow aus Potsdam dar.
Friedrich Sellow wurde am 12. März 1789 in eine Gärtner-Dynastie geboren. Seit rund 100 Jahren waren es Mitglieder der Familie der Sell, die als königlich-preussische Obergärtner fungierten. (Heute würde man wohl von Gartenarchitekten reden.) Einer von Friedrichs Vorfahren änderte seinen Namen in Sello – warum, wissen wir nicht. Vielleicht, weil im 18. Jahrhundert nicht nur in der Musik, sondern auch im Gartenbau Italiener tonangebend waren. Da zu jener Zeit in Preussen aber auch viele Familiennamen slawischen Ursprungs existierten, die auf ‚o‘ ausgesprochen wurden, aber ‚-ow‘ geschrieben, fand sich das ‚w‘ am Ende von Sellows Namen ganz natürlich ein. Sellows Vater starb zu früh, als dass er seinem Sohn seine Stelle hätte vererben können – sie wurde fremd vergeben. Da die andern über königliche Gärten regierenden Sellows selber Söhne hatten, die ihre Nachfolge antreten sollten, war Friedrichs Position in Potsdam und Berlin längerfristig unhaltbar. Der Junge besuchte das Gymnasium und brachte es so weit, dass man ihn mit einer Empfehlung des damaligen Ministers Wilhelm von Humboldt versehen nach Paris schickte, wo er wiederum von Alexander von Humboldt gefördert wurde, und Collegien von u.a. Cuvier, Lamarck und Saint-Hilaire hörte. Alexander von Humboldt vermittelte ihm auch die Möglichkeit, nach London zu gehen, wo er bei Sir Joseph Banks hörte, dem grössten damals lebenden Universalgelehrten. Ziel dieser Studien war es, Sellow zum wissenschaftlichen Gärtner zu qualifizieren. Es war nämlich das erklärte Ziel jeden grossen Gartens, auch wissenschaftlich, d.h. in der Erforschung und Klassifizierung exotischer Pflanzen, zu brillieren. (Die heimische Flora war offenbar nicht ’sexy‘ genug.)
Hier nun spielt die politische Geschichte hinein. Von Napoléon bedroht, floh das portugiesische Könighaus 1807 von Lissabon nach Brasilien, nach Rio de Janeiro. Der Vorgang, den Regierungssitz vom Mutterland in eine Kolonie zu verlegen, war zu jener Zeit einmalig. Unter mehr oder weniger sanftem Druck der Schutzmacht Grossbritannien wurde Brasilien auch für Nicht-Portugiesen geöffnet, nachdem die Kolonie bisher rigoros abgeschottet war – kein Wunder, bezogen doch Portugal und das portugiesische Königshaus ihren Reichtum aus den Bodenschätzen Brasiliens. Während noch Alexander von Humboldt auf seiner Südamerika-Expedition an der Grenze Brasiliens Halt machte (zu Recht, es existierte ein persönlicher Haftbefehl gegen ihn, da man ihn als Spion verdächtigte!), konnte nun Sellow das Land betreten. Die Erforschung Brasiliens war gewissermassen ein ‚Hype‘ jener Zeit; selbst Goethe liess sich entsprechende Literatur zukommen.
Preussens Prestige erforderte es, dass man auch daran teilnähme. Sellow war von seiner Ausbildung und seiner Neigung her der geeignete Kandidat für so eine Expedition. 1815 traf er in preussischem Auftrag, aber im Gefolge des rheinländischen Prinzen Maximilian zu Wied-Neuwied, in Rio de Janeiro ein. Es begann für ihn eine Periode unermüdlichen Reisens und Sammelns. Vor allem botanische Specimen wurden untermüdlich fachmännisch getrocknet, eingepackt und an Museen und Gärten in Berlin und London (von wo er ebenfalls finanziert wurde!) verschickt. Auch der Fauna widmete er auftragsgemäss seine Aufmerksamkeit. Was er nicht getrocknet oder als Samen nach Europa senden konnte, davon machte er Zeichnungen. (Und einer der Essays widmet sich nur diesen Zeichnungen und zeigt auf, wie der Blick des Naturforschers beim selben Panorama anders sein konnte, als der des Zeichners. Es war zu jener Zeit nämlich üblich, dass ein Zeichner die Naturwissenschafter begleitete, da die wenigsten wie Sellow selber gut genug zeichnen konnten. Gerade diese Zeichner waren aber oft das schwache Glied einer Expeditions-Kette, indem sie sich als krankheitsanfällige Querulanten herausstellten.)
Auszüge aus Sellows Tagebuch zeigen, wie sehr er seiner Aufgabe verpflichtet war: Keinerlei persönliche Aufzeichnungen finden wir darin. Im übrigen war es Sellows Ziel, nach beendeter Reise in Preussen seine Sammlung selber auszuwerten. Er hatte sich schon längst vom Prinzen zu Wied-Neuwied getrennt, als er 1831 beim Baden im Rio Doce ertrank . Sellow hatte sich in Brasilien mit Ignaz von Olfers befreundet; eine Zeitlang waren sie auch zusammen auf Expedition. Sie hatten miteinander vereinbart, dass, wer den andern überlebe, auch dessen Forschungsresultate auswerten dürfe. Ignaz von Olfers war zur Zeit von Sellows Tod bereits wieder in Berlin und akzeptierte dessen Aufzeichnungen. Leider kam er nicht dazu, sie auszuwerten; schon in Brasilien halb Diplomat, halb Forschungsreisender gewesen, war er nun gänzlich in diplomatischen Diensten tätig. Nach Olfers‘ Tod gingen Sellows Aufzeichnungen vergessen, z.T. verloren. Vieles, was Sellow schon erforscht hatte, wurde später, da man nichts von Sellows Arbeiten wusste, nochmals erforscht. Seine gesammelten Specimen mutierten durch Dubletten-Tausch mit andern Institutionen und generell nachlässige Katalogisierung und Aufbewahrung zu einem unübersichtliche Haufen. Viele seiner Aufzeichnungen verbrannten bei der Bombardierung Berlins im Zweiten Weltkrieg. Auch das ist Wissenschaftsgeschichte.
Ein sehr interessantes Buch also. Zwar konnten offenbar Doppelspurigkeiten unter den Verfassern nicht ganz vermieden werden, und der geneigte Leser erfährt vieles doppelt und dreifach. Aber das hält sich in Grenzen. Auch die äussere Gestaltung gefällt. Viele farbige Illustrationen, hochwertiges Papier, ein Satzspiegel, der für einmal grosszügig bemessen ist. Einziger Kritikpunkt: Warum man bei dieser im übrigen eleganten Gestaltung dem Band einen billigen Pappdeckel verpasst hat, will mir nicht einleuchten.
Bibliografische Angaben: Die Erkundung Brasiliens. Friedrich Sellows unvollendete Reise. Herausgegeben von Hanns Zischler, Sabine Hackethal, Carsten Eckert und dem Museum für Naturkunde Berlin. Berlin: Galiani, 2013.
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