Karl Leberecht Immermann (1796-1840; man findet seine Vornamen auch als ‚Carl‘ und ‚Lebrecht‘) war für mich bisher der Inbegriff epigonaler Literatur, und ich habe mich nicht für ihn interessiert. Gutzkows Ritter vom Geiste hatte mich für lange Zeit von solcher Literatur kuriert.
Dabei galt Immermann nicht immer als wertloser Epigone. Noch 1935 erschien eine sechsbändige Auswahl seiner Werke bei Meyers Klassiker-Ausgaben, von Harry Maync als erste historisch-kritische der Immermann’schen Werke angepriesen. Münchhausen nimmt darin die ersten beiden Bände ein.
‚Münchhausen‘ gab es ja wirklich: Hieronymus Carl Friedrich Freiherr von Münchhausen lebte von 1720 bis 1797. Wie genau er zur Ehre eines ‚Lügenbarons‘ kam, entzieht sich meiner Kenntnis; er wird wohl unter Kameraden beim Wein tatsächlich ein bisschen mehr als andere aufgeschnitten haben, wenn es darum ging, eigene Abenteuer zu erzählen. Gottfried August Bürger jedenfalls nahm diese Erzählungen, fügte eigenes hinzu – und gab so einer literarischen Figur das Leben, die bis heute aktiv in den Köpfen der Leser herumspukt. Und eben nicht nur der Leser, sondern auch der Autoren-Kollegen. An Paul Scheerbarts Münchhausen und Clarissa. Ein Berliner Roman von 1906 sei hier nur kurz erinnert, oder daran, dass Erich Kästner das Drehbuch für den Film mit Hans Albers schrieb.
Wie Scheerbart transponiert auch Immerman den Lügenbaron in seine eigene Zeit. Immermann tut dies, indem er als Protagonisten den Enkel von Hieronymus Carl Friedrich einführt. Ich muss es gestehen: Ich habe mich getäuscht, und Immermanns Münchhausen von 1838/1839 ist bedeutend lesbarer und amüsanter als andere epigonale Literatur. Denn zumindest die ersten drei Teile (von vieren) sind äusserst satirisch, einiges davon ist gar Satire vom Feinsten. Man merkt die misogyne Schule eines Swift. Mehr noch als Swift allerdings ist es Laurence Sterne, an dem sich Immermann orientiert. Schon der Beginn ist Sterne’sch, wenn Buch 1 nicht mit Kapitel 1 anhebt, sondern mit Kapitel 11, und erst nach Kapitel 15 dann den Anfang nachholt. Dazwischen geschaltet eine angebliche Korrespondenz des Herausgebers mit dem Buchbinder, die in immer kürzere Billets ausartet, bis der Buchbinder dem Herausgeber rät:
[…] Lassen Sie unsern Briefwechsel im ersten Buche abdrucken; der hilft ihm auf.
VII.
Der Herausgeber an den Buchbinder.
Auch unsre letzten Zettel?
VIII.
Der Buchbinder an den Herausgeber.
Jawohl.
IX:
Der Herausgeber an den Buchbinder.
Wohl.
X.
Der Buchbinder an den Herausgeber.
(Kuvert um die Briefe des Herausgebers.)
Nur wenig später finden wir gar ein Rebus als Kaptitelüberschrift – Immermann war also Sternes Spiel mit der Gestaltung eines Buches durchaus geläufig. Allerdings ist es nicht nur Sterne, den wir hier finden. Der Briefwechsel mit seinen kleinen, in sich sinnlosen Zetteln erinnert an den von Goethe herausgegebenen Briefwechsel zwischen ihm und Schiller, der ähnlich sinnfreie Zettelchen enthält. Und mit der Verdrehung der Kapitel nimmt Immermann auch einen andern, einen Zeitgenossen diesmal, aufs Korn.
Denn Immermanns Münchhausen ist vor allem Literatur- und Intellektuellen-Satire. Nicht nur Goethe und Schiller werden aufs Korn genommen. Wenn Protagonisten ihre Geschichte erzählen, parodiert Immermann seitenlang den umständlich-präzis-langweiligen Stil eines Alexander von Humboldt. Die Vertauschung der Anfangskapitel wiederum ist nur die erste Spitze gegen Immermanns Intimfeind, den Fürsten Pückler-Muskau (der sich in einem seiner Werke auch so etwas leistete). Diesen damals berühmten Reisenden lässt Immermann später gar persönlich auftreten, bzw. eine Figur, die Pückler-Muskaus Lieblings-Pseudonym ‚Semilasso‘ als Namen führt, sich wie Pückler-Muskau ungewöhnlich kleidet und einen speziell eingerichteten Ochsenkarren fährt. Ein anderes Lieblingsziel von Immermanns Satire ist Hegel, dessen dunkles Sprachgemunkel er gern parodiert. Er lässt gar einen Hegelianer auftreten, auf der Suche nach dem nur scheinbar gestorbenen Meister. Die geister-seherische romantische Pseudo-Medizin wird in 4. Buch ausgiebig persifliert – als deren Vertreter müssen der Dichter Justinus Kerner und der Naturphilosoph Karl August Eschenmayer (nur dünn verschleiert) herhalten. Daneben mischt sich aber auch der Autor selber unter seine Figuren – spielt doch ein Schriftsteller, der nicht nur Immermann heisst, sondern auch aussieht wie Karl Leberecht, eine wichtige Rolle in diesem literarischen Verwirrspiel, rettet gar seinem Münchhausen das (literarische) Leben.
En passant finden wir realistisch genaue Schilderungen, z.B. von westfälischen Bräuchen: die Hochzeit einer reichen Bauerntochter wird nach Quellen rekonstruiert, ebenfalls ein bäuerliches Feme-Gericht. Selbst die Kleidung einer reichen Frau (Materialien, Schnitt etc.) wird genau geschildert; der Leser erfährt sogar, zu welcher Gelegenheit welcher Stoff und welcher Schnitt getragen werden konnte oder musste. Erste Vorboten des aufkommenden Realismus in der Literatur.
Leider fällt der vierte und letzte Teil ab. Die ersten drei Teile waren ein witziges und amüsantes Verwirrspiel um verschiedene Identitäten, die Münchhausen angenommen hatte, durchmischt mit satirischen Seitenhieben auf diesen und jenen. Der vierte Teil setzt ein mit einer Widmung Immermanns an sein grosses Vorbild – und tatsächlich habe ich den bisher ausser Acht gelassen: Ludwig Tieck. (Ironie des Lebens: Immermann spricht in seiner Widmung die ehrwürdigen Schläfen Tiecks an, der zu jenem Zeitpunkt 66 Jahre alt war – Tieck sollte noch Immermanns literarischer Nachlassverwalter werden.) Doch mit der öffentlichen Hinwendung zu Tieck wird Immermann praktisch völlig ‚romantisch‘ – im schlechten Sinn. Die Satire tritt weitestgehend zurück, Münchhausen verschwindet gar völlig von der Bildfläche; Immerman braucht jetzt Platz, um die Liebesgeschichte, die vorher nur einer der vielen Fäden des Gewebes darstellte, zu Ende zu führen. Es sei ihm immerhin zugegeben, dass das Happy Ending zwar erfolgt, es aber mit Wermutstropfen gefüllt ist: Wohl heiratet das arme Waisenmädchen den reichen Grafen, aber die immer wieder angedeutete Enthüllung, dass das arme Mädchen so arm eben nicht sei, erfolgt dann doch nicht. Die Phiole mit geheimnisvollem Inhalt, mit der der Autor wie mit einem riesigen Zaunpfahl ständig winkt, ist am Ende des Romans spurlos verschwunden, und die junge Gattin sieht sich durchaus mit den Anfeindungen der Haute Volée konfrontiert, und mit der Tatsache, dass ihre gemeinsamen Kinder nie Erben von Titel und Vermögen des Grafen werden können.
Dennoch – wenn alles so geschrieben worden wäre, wie der vierte Teil: Ich könnte Münchhausen nicht empfehlen. Die ersten drei Teile aber bieten durchaus verschiedene Leckerbissen, und ich bedaure, sie nicht früher kennen gelernt zu haben.
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