Longos: Daphnis und Chloë [ΛΟΓΓΟΥ ΠΟΙΜΕΝΙΚΩΝ ΤΩΝ ΚΑΤΑ ΔΑΦΝΙΝ ΚΑΙ ΧΛΟΗΝ ΛΟΓΟΣ ΠΡΩΤΟΣ]

Darüber, ob der Verfasser des kleinen Romans Daphnis und Chloë überhaupt „Longos“ geheißen habe, oder ob dies nicht ein Abschreibfehler in der einen von den beiden Handschriften aus dem 10. Jahrhundert gewesen sei, die die ältesten Überlieferungszeugen darstellen, streiten sich die Fachleute. Die zweite, im Allgemeinen als zuverlässiger geltende Handschrift hat an Stelle von „Longoi“ nämlich „Logoi“. Auch über den Herkunftsort des Autors herrscht Unsicherheit: Ist es tatsächlich die Insel Lesbos, auf der Daphnis und Chloë spielt und über deren Geografie der Autor offenbar sehr gut Bescheid wusste? Selbst die Entstehungszeit des Romans ist unklar. Dass man allgemein das 2. Jahrhundert annimmt, hängt ganz einfach damit zusammen, dass die Art von Malerei, die der Autor in seiner Vorrede schildert, in eben diesem Jahrhundert in Griechenland en vogue war.

Doch überlassen wir diesen Streit den Fachleuten und wenden uns dem Roman als solchem zu. Über Jahrzehnte hinweg (in etwa von der Mitte des 19. bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts) galt Daphnis und Chloë als minderwertig, weil von schwüler Schlüpfrigkeit und voller sexueller Perversion (so Rudolf Helm noch 1948). Heute, wo jeder 12-Jährige im Internet Deftigeres findet oder gar selber einstellen kann, muten die vermeintlich pornografischen Stellen recht bieder an. Erotisch: Ja. Pornografisch: Nein. Unsere Vorväter und -mütter hatten bei aller Goethe-Verehrung jenen Satz aus dessen Gesprächen mit Eckermann vergessen, in denen der alte Mann von Weimar empfiehlt, den Roman alle Jahre einmal zu lesen, um immer wieder daran zu lernen und den Eindruck seiner großen Schönheit aufs Neue zu empfinden. (In Goethes Sätzen mag ein gewisses mehr oder weniger gutmütiges Sich-lustig-Machen über Eckermann versteckt sein – heute würden wir wohl von Mobbing sprechen: Eckermann war der ewige Verlobte und zu jener Zeit, mit über 30 Jahren, sexuell wahrscheinlich ebenso jungfräulich und unerfahren wie der 15 Jahre alte Daphnis zu Beginn dieses Hirtenromans. In der Sache aber trifft Goethe den Kern.)

Ich habe bisher immer von einem Roman gesprochen – obwohl es den Roman als literarische Form im Grunde genommen erst seit der seinen Namen tragenden Romantik gibt, die Gattung erst zu dieser Zeit in Frankreich fixiert wurde. Dennoch gab es bereits in der Antike den einen oder andern „Roman“, sprich: eine in Prosa verfasste Darstellung von mehr oder weniger abenteuerlichen Geschichten. In den auf uns überkommenen Fällen handelt es sich bei den Geschichten immer um Liebesgeschichten. Erzählt wird linear, d.h. in der Reihenfolge der (fiktiven) Ereignisse. Sollten zwei Erzählstränge nötig sein, weil die Liebenden durch äußere Gewalt getrennt wurden, werden diese parallel geführt; es gibt keine Rück- oder gar Ausblicke. Bei dieser Art zu erzählen, orientiert man sich an den Geschichtsschreibern der Antike, allen voran an Thukydides. Der Inhalt der Erzählung wird jeweils aus stereotyp vorkommenden Versatzstücken gebildet: Wir finden die Entführung des oder der einen der beiden Liebenden (oft auch beider zusammen) als ein die Erfüllung der Liebe retardierendes Moment, ausgedehnte (oft unfreiwillige) Reisen zur See, die regelmäßig in einem Schiffsunglück enden, das den einen oder beide Liebenden auf eine einsame Insel verschlägt. (Noch im 17. Jahrhundert hat Cervantes in der ersten Hälfte seines Altersromans Die Irrfahrten von Persiles und Sigismunda weidlich auf diese Muster zurückgegriffen.)

Alle diese Versatzstücke weist Daphnis und Chloë auch auf – aber ironisch verfremdet. Wohl wird Chloë von marodierenden Truppen aus einem Nachbarstaat entführt und Daphnis leidet sehr darunter. Aber der zur Hilfe gerufene Gott Pan kann das noch am selben Abend wieder korrigieren. Er ruft ihre Schafe an, die mit ihr zusammen entführt wurden. Diese stürzen sich wie ein Mann ins Wasser und reißen Chloë mit. Auch das obligate Schiffsunglück haben wir demnach – aber alles findet in Sicht- und Hörweite von Lesbos statt; die „einsame Insel“, an der Chloë strandet, ist ihre eigene Heimat. Alle Abenteuer, die die beiden erleben, dienen letztlich nur dazu, dass ihnen ihre gegenseitige Liebe immer bewusster wird, und sind nicht wirklich gefährlich.

Zur Liebe gehörte in der Antike auch die Sexualität. Hier wird der kleine Roman wirklich grossartig und rechtfertigt Goethes Urteil. Es ist gleichzeitig komisch und berührend, mitzuverfolgen, wie die beiden jungen Leute, deren (Pflege-)Eltern sie offenbar nicht aufklärten, und die auch in der Schule keinen Sexualunterricht genossen haben (ganz einfach, weil sie überhaupt keine Schule genossen haben) – wie diese beiden Kinder also (der Herausgeber meiner Ausgabe nennt sie Tölpel) – wie diese beiden Kinder also zwar sehr rasch spüren, dass zur Liebe auch Sex gehört, aber keine Ahnung haben, wie dieser Sex genau funktionieren könnte. Chloë verspürt erste sexuelle Regungen, als sie im zarten Alter von 13 Jahren den 15-jährigen Daphnis nackt baden sieht und ihn danach abtrocknet, aber sie kann, was sie spürt, nicht benennen, nicht zuordnen. Später werden die beiden nackt nebeneinander liegen – zu mehr kommt es nicht, da sie keine Ahnung haben, was dieses „Mehr“ sein könnte. Selbst die Beispiele ihrer Ziegen- und Schafsböcke helfen den beiden nicht weiter. (Erst recht spät in der Geschichte wird Daphnis von einer älteren, erfahrenen Frau praktischen Sexualkundeunterricht erhalten. Diese Frau aber macht Daphnis mit ihrer Schilderung der Schmerzen und der Blutungen, die Chloë beim ersten Mal erleiden würde, derart Angst, dass er sich nicht einmal mehr getraut, nackt bei seiner Geliebten zu liegen, aus Angst, es könnte nun wirklich zu mehr kommen.)

Selbstverständlich führt diese doch recht spezielle Form von Entwicklungsroman zu einem Happy Ending. Die beiden heiraten – in der Stadt, weil es sich herausstellt, dass ihrer beiden Eltern reiche Stadtbewohner waren, die sie aus je verschiedenen Gründen auf dem Land ausgesetzt haben. Dennoch führen sie später ihr ländliches Leben weiter – nur dass sie nun auch ihre Sexualität ausleben.

Goethe als Literaturkritiker ist immer problematisch. Hier muss ich ihm für einmal Recht geben: Dieser kleine Roman ist tatsächlich ein Schmuckstück seiner Art.


Longos: Daphnis und Chloë. Übersetzt von Friedrich Jacobs mit einem Nachwort von Niklas Holzberg. Düsseldorf, Zürich: Artemis und Winkler, 2002

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