Überschneidungen mit den Ästhetischen Schriften in Auswahl sind vorhanden, aber vernachlässigbar, auch deswegen, weil der Herausgeber dieser Auswahl, Christoph Schulte, in seinen einleitenden Bemerkungen jeweils leicht andere Akzente von Mendelssohns Schriften herausstreicht, als Otto F. Best in den seinen.
Die Berliner Aufklärung, zu der Mendelssohn gerechnet werden kann (er hat viele seiner Schriften bei Nicolai publiziert, dem ‚Kopf‘ der Berliner), wird heute gern belächelt. Dazu beigetragen haben nicht zuletzt die beiden Schlegel, dazu beigetragen hat sicher auch, dass Nicolai im Alter zu einem gewissen ideologischen Starrsinn neigte und dazu, sich selber und seine Form von Aufklärung allzu wichtig zu nehmen.
Philosophiegeschichtlich ist der Berliner Aufklärung zu Gute zu halten, dass sie – noch vor Kant – religiöse Toleranz und kritisches Denken (hier nicht im Sinne Kants gemeint!) progagiert. Dass es – zumindest im deutschen Sprachraum – erst Kant gelang, Fragen der Theodizee, der Bestimmung des Menschen etc. vom Begriff ‚Gott‘ zu lösen bzw. den Begriff ‚Gott‘ als philosophisch überflüssig zu erklären, zeigt zugleich die Grenzen der Berliner Aufklärung, zeigt auch die Grenzen Mendelssohns. Die Berliner, und mit ihnen Mendelssohn, bleiben im Grunde genommen bei Descartes stehen, der aus Vernunftsgründen einen gütigen Gott postulieren zu müssen meinte. Den bzw. dessen Weiterentwicklung durch Leibniz, Wolff und Baumgarten übernehmen die Berliner. (Die zeitgenössischen Franzosen – Rousseau, Diderot, Voltaire – sollten erst nach der hier vorgestellten Periode zum Vorbild für die Berliner werden. Die sensualistisch geprägten Engländer (hier denke ich vor allem an Hume und Locke) wurden in Deutschland kaum wahrgenommen, allenfalls Shaftesbury, der allerdings den Empirismus Lockes in einen Idealismus zu drehen vermochte.
Im Gegensatz zu Moritz, der sehr ‚weit‘ dachte (und genau deshalb nie richtig beim Thema bleiben konnte), ist Mendelssohn eher der ‚tiefe‘ Denker, der sich auf ein Thema beschränken kann. Dass er dabei kaum als origineller Denker erscheint, ist sicher mit ein Grund, warum er heute kaum noch rezipiert wird.
Den originellsten Denkansatz finden wir denn auch gleich in einer der frühesten Schriften Mendelssohns, wo er sich bemüht, in Spinozas Ethik erste Spuren der Leibniz’schen Monade zu finden. Es gelingt allerdings nicht so recht, weil Mendelssohns philologisch-interpretatorischen Verdrehungen nicht so recht gelingen. Immerhin riet ihm sogar ein Lessing zur Publikation des Aufsatzes.
À propos Lessing: Am interessantesten von den in Band I aufgeführten Schriften fand ich Pope ein Metaphyiker! Dieser Aufsatz stammt von Mendelssohn und Lessing gemeinsam, und sie wenden sich darin dezidiert gegen eine Preisfrage der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, die einen Vergleich des Popischen Systems, das in dem Satz „alles ist gut“ enthalten sei mit dem Leibnizschen Optimismus verlangt hatte (aus der Einleitung des Herausgebers). Tenor des Aufsatzes Mendelssohns und Lessings ist, dass ein Dichter, qua Dichter, kein philosophisches System habe.
Wie bei Baumgarten, ist auch bei Mendelssohn Ästhetik als Erkenntnisvermögen der niederen Organe – Mendelssohn spricht von Empfindungen – im Grunde genommen einfach eine spezielle Erkenntnistheorie.
Den Abschluss des ersten Bandes macht Phaedon, ein zu Mendelssohns Lebzeiten und auch in den ersten Jahren nach seinem Tod häufig zitierter und sehr bekannter Aufsatz. Der Titel deutet es an: Mendelssohn schildert hier noch einmal den Tod des Sokrates. Personen und ‚Setting‘ sind dieselben wie bei Platon, selbst einzelne Gesprächssequenzen hat Mendelssohn von Platon übernommen. Allerdings gibt er Sokrates‘ Äusserungen einen kleinen ‚Twist‘: Sokrates erklärt sich bei Mendelssohn ganz offen als Monotheisten, der an einen einzigen, vernünftigen und gütigen Gott glaubt. Und das Gespräch, das Sokrates auf dem Sterbebett noch mit seinen Schülern führt, dreht sich dann auch zentral um die Frage, ob und wie die Existenz dieses Gottes und eines Reichs nach dem Tod, in das die Seelen eingehen werden, bewiesen werden kann. (Und die Existenz einer unsterblichen Seele natürlich auch!) Mendelssohn gelingt die Imitation Platons nicht übel, auch wenn der platte Rationalismus den heutigen Leser erschreckt. Die Hebammenkunst des Sokrates gelingt denn auch nur, weil dieser seinen Schülern immer wieder Suggestivfragen stellt. Der echte Sokrates, oder zumindest der Sokrates in Platons frühen Dialogen, war da (wie man heute sagen würde) ergebnisoffener.
Ähnlich wie Moritz‘ Schriften zur Popularphilosophie vermitteln auch Mendelssohns Schriften zur Metaphysik und Ästhetik einen guten Einblick ins Denken der philosophisch-kulturellen Avant-garde der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, die wir heute „Berliner Aufklärung“ nennen. Für uns freilich, die wir Kant kennen, ist vieles obsolet, was die Berliner damals umtrieb.