1930 bis 1933 ist definitiv die Zeit, in der Kuh seinen deutschen Lesern seine österreichische Heimat näher zu bringen versucht. Er schreibt sogar ein Buch: Der unsterbliche Österreicher. Das heisst: Aktuell neu geschrieben wird nur eine Einleitung; im Übrigen besteht das Buch aus recycelten Texten. Aber es fällt auf, dass Kuh seine Landsleute nun bedeutend gelinder behandelt. Mit Schnitzler hat er seinen Frieden schon im letzten Buch gemacht. Nun wird auch des gerade erst verstorbenen Hofmannsthals positiv gedacht. (Was der allerdings vor allem seinem Jedermann zu verdanken hat; bzw. der Tatsache, dass Max Reinhardt für den Jedermann die Salzburger Festspiele gegründet hat und ihn nun dort jährlich aufführt. Und Max Reinhardt – ein weiterer Österreicher – gehört eindeutig zu Kuhs Lieblingen dieser Jahre.) Selbst eine soeben erschienene Sammlung Salten’scher Novellen wird – nun ja: nicht gerade enthusiastisch gelobt, aber doch auch nicht zur Hölle verdammt. Eigentlich wird nur neutral deren Erscheinen angezeigt.
Ein weiterer Versuch, Deutschland und Österreich literarisch anzunähern, besteht darin, dass Kuh den Lumpacivagabundus Nestroys bearbeitet. Kuh merzt die unverständlichsten Wiener Dialektworte aus, und schreibt die Handlung zum Teil um. Die Aufführung ist ein Misserfolg, was Kuh der Tatsache zuschreibt, dass der Bearbeiter nochmals bearbeitet worden ist. Nicht nur wurde die Handlung nochmals geändert, auch hat man – gemäss Kuh – an vielen Orten Nestroy-Kuhs subtilen Wiener Witz durch grobschlächtigen Berliner Witz ersetzt. (Kuhs Bearbeitung ist in extenso in Band 5 enthalten. Dazu nur so viel: Mir ist das Original lieber.)
Nur einer ist von Kuhs Generalpardon gegenüber Österreich und den Österreichern ausgenommen: Karl Kraus. Im Gegenteil: Wir finden in diesen Jahren die bisher schlimmsten Angriffe Kuhs auf Kraus. Die souveräne Gelassenheit, die er früher seinem Widerpart gegenüber an den Tag gelegt hat, scheint ihn völlig verlassen zu haben. Kuhs Artikel sind voll gehässig-paranoider Vorwürfe gegen Kraus und stellen den Tiefpunkt in Kuhs Schaffen dar.
Zum Glück sind es deren nur wenige, und der Leser wird darüber dadurch getröstet, dass Kuh in dieser Zeit eine neue Figur ins Leben gerufen hat, den Bürger Brunneisel. Ein Wiener Kleinbürger und Familienvater mit den Sorgen eines Kleinbürgers und Familienvaters in jener Zeit, der in verschiedenen kurzen Geschichten seine Meinung zum Besten gibt. Mal hat er mit seinen Ansichten gar nicht einmal Unrecht, mal liegt er damit völlig verquer. Zwar stand ganz eindeutig Tucholskys Herr Wendriner Pate zum Bürger Brunneisel. Letzterer ist aber doch eine eigenständige Figur. Und durch ihn wird die Lektüre von Band 5 der Werke belohnt.