Diesen Unsinn anzuprangern und Alternativen aufzuzeigen ist Aufgabe dieses Buches. Reichenbach sieht im platonischen Idealismus den Sündenfall schlechthin, einen Sündenfall, dessen Ursache in dem vermeintlich reinsten, rationalen Wissensbereich liegt: Der Mathematik. Ihre Hochachtung war es (in die platonische Akademie sollte man nicht eintreten ohne mathematische Kenntnisse), die Platon zu seinem idealen Reich der Ideen führte, ein Reich, in dem jene Genauigkeit herrscht, die in der uns zugänglichen Welt unerreichbar ist. Hier verbirgt sich auch die Sehnsucht nach Perfektion, nach Gewissheit: Ein verständlicher Wunsch, der aber in der Geschichte der Philosophie nicht unerheblichen Schaden angerichtet hat.
Diese Suche nach Gewissheit in der Erkenntnis neben der Tatsache, dass alle Empirie eine solche Gewissheit nie leisten könne, wurde zum Anlass für den Primat des Rationalismus, more geometrico – also im Sinne der absoluten mathematischen Genauigkeit – wollte man seine Systeme entwerfen: Ob das nun Spinoza war oder der Kantsche Versuch der synthetischen Erkenntnisse a priori, die unserem Geist innewohnen – immer galt es absolute Sicherheit zu erreichen, die einzig durch eine reine Vernunft garantiert werden konnte. Und diese Überschätzung der rationalistischen Methode hatte einen fatalen Nebeneffekt, der ebenfalls schon bei Plato auftaucht: Auch in der Ethik, im Wissen um das Gute wollte man Gewissheit erzielen (im „Menon“ wird das Wesen der Tugend untersucht – und schließlich die sokratische (oder platonische) Gleichsetzung des Guten mit dem Wahren erreicht).
Reichenbach setzt diesen unerfüllbaren Forderungen die Fallibilität aller Erkenntnis entgegen. Er untersucht das Wesen der Zeit bzw. des Raumes und zeigt anhand der Einsteinschen Relativitätstheorie, dass auch in diesen Bereichen ein sicheres, apriorisches Wissen unmöglich zu erreichen ist – und er sieht die Kategorie der Kausalität durch die Quantenphysik in Frage gestellt. Unsere Vernunft stattet uns mit in unserer Lebenswelt funktionalen Kenntnissen aus, im Kleinen als auch ganz Großen sind unsere Annahmen nur Näherungen. Allerdings überschätzt Reichenbach die Möglichkeit wissenschaftlicher Arbeit: Er zeigt sich von einer auf Induktion beruhenden Wahrscheinlichkeitstheorie überzeugt (an einer solchen induktiven Logik bzw. Wahrscheinlichkeit ist Carnap später gescheitert) und glaubt das Humesche Induktionsproblem auf diese Art lösen zu können (was sich als unmöglich erwiesen hat). Und er hat auch den Traum des logischen Formalismus Hilbertscher Prägung 20 Jahre nach Gödel noch nicht ganz aufgegeben.
Von diesen (positivistisch anmutenden) Träumereien abgesehen ist sein Programm einer Philosophie unter Einbeziehung aller wissenschaftlichen Teilgebiete (er erkannte auch die Bedeutung der Darwinschen Evolutionstheorie für die Erkenntnis) mehr als nur beachtenswert: Er wendet sich mit Recht gegen die damals wiedererstarkte spekulative Philosophie, macht sich für die Instrumente der Logik und der Mathematik stark (betont aber diesen ihren instrumentellen Charakter: Beide sind „leer“ und können keine synthetischen Aussagen über die Wirklichkeit treffen) und erweist sich auch in der Ethik als Realist (und Dezisionist). Ethische Gebote haben Willenscharakter, sind objektiv nicht beweisbar und haben nur in ihrer implikativen Bedeutung Bezug zu einer logischen Rationalität: Insofern die Mittel zur Erreichung eines bestimmten Zweckes ausgewählt werden müssen. Er zeigt aber auch, dass aus dieser dezisionistischen Haltung keinesfalls ein anarchisches Prinzip folgt: Aus dem Fehlen eines obersten Wertes kann nicht abgeleitet werden, dass alles erlaubt sei. Er stellt dem ein demokratisches Prinzip gegenüber: „Jedermann hat das Recht, seine eigenen Imperative aufzustellen und zu verlangen, daß alle anderen Menschen diesen Imperativen Folge leisten.“ Das bedeutet eine Aufforderung zur Teilnahme am Kampf der Meinungen, an einer rationalen Diskussion, ohne auf Autoritäten zu rekurrieren. Und es demonstriert den reinen Willenscharakter ethischer Äußerung, wobei die Feststellung dieses Charakters keinen ethischen Imperativ impliziert, sondern eine rein kognitive Aussage darstellt. Daher kann daraus auch kein anarchischer Imperativ abgeleitet werden: Ethische Aussagen können aus kognitiven Sätzen nicht gefolgert werden.
Insgesamt eine sehr angenehme, oft lehrreiche Lektüre, die nur in Fragen der Wissenschaftstheorie allzu optimistisch war. Reichenbach ist heute zu Unrecht fast vergessen, die Vertreibung dieser Form von wissenschaftlicher Philosophie unter dem Nationalsozialismus war auch für die Nachkriegszeit bestimmend: Nach dem Chaos war die Sehnsucht nach festen Werten, nach Sicherheit zu groß, die Alternative bestand in einer Art Innerlichkeit, die sich beim dunklen Geraune Heideggerschen Provenienz wohlfühlte. Oder – später – in einer nichts weniger als wissenschaftlichen Kritik, die sich auf Hegel und Marx berief: Wodurch alle Logik, alles wissenschaftliche Denken, dem Reichenbach anhing, durch die Beliebigkeit dialektischer Wortwolken ersetzt wurde.
Hans Reichenbach: Der Aufstieg der wissenschaftlichen Philosophie. Berlin: Herbig 1953.