Eine Problematik dieses Buches liegt in dem erwähnten Textkorpus: Da dieser großteils unübersetzt geblieben ist und auch nicht publiziert wurde, ist man auf die erwähnten Zitate angewiesen und kann nur bedingt den Argumentationslinien folgen. Grundsätzlich sind zwei unterschiedliche Strategien in der clandestinen Literatur zu erkennen: Ein naturalistisches Konzept, das sich gegen Wunderberichte wendet, den theistischen Welterklärungsmodellen „natürliche“ Erklärungen gegenüberstellt, aber auch bibel- und textkritisch vorgeht und auf die Religion als Machtmittel hinweist. Der „agnostische** Atheismus“ versucht auf logisch-rationale Weise die prinzipielle Schwierigkeit der Beweisbarkeit zu zeigen, indem er nicht nur eine aus der skeptischen Tradition erwachsende Isosthenie konstatiert, sondern die Beweislast für eine Behauptung dem Behauptenden zuweist und dadurch eine vorgebliche Neutralität in der Beweisfrage als intellektuell unredlich brandmarkt.
Über weite Strecken des Buches war ich von der mangelnden historisch-philosophischen Integration des „Atheismus“ wenig angetan: Auch wenn man sich darauf zu beschränken entschließt, nur solche Dokumente aufzunehmen, in denen die Existenz Gottes ausdrücklich bestritten wird, so ist dieses Auftreten eines ersten expliziten Atheismus keineswegs ein (wie Schröder anklingen lässt) nur sehr schwer verständliches Phänomen. Und es steht durchaus in Zusammenhang mit einer stärkeren Rationalisierung, mit dem Aufkommen der Naturwissenschaft im 17. Jahrhundert, was der Autor (sich an seinem Textkorpus orientierend) entschieden bestreitet.
Paradigmatisch für diese Haltung ist die Zurückweisung eines Zusammenhanges von Atheismus und Rationalismus (dies erscheint im Buch umso befremd, weillicher Schröder – fragwürdigerweise, es sei nur an Descartes erinnert – skeptische Traditionen streng vom Rationalismus trennt), der von Juan Donoso Cortéz – völlig zu Recht – hergestellt wurde: Dass nämlich die absolute Autonomie und die umfassende Kompetenz der Vernunft als Konsequenz den Atheismus zur Folge hätte. Dies ist für den Autor oberflächlich und durch eine Fehlinterpretation von Bussons Werken bedingt: Aber selbst wenn man die Begriffsidentität von Rationalismus und Aufklärung (mit Recht) bestreitet, so ist der von Cortéz gemutmaßte Zusammenhang evident. Jedes selbständige Denken emanzipiert sich sukzessive von heteronomen Bestimmungen: Man kann das in der Scholastik (mit dem Hinweis auf die zwei Wahrheiten) erkennen, auf nominalistische Ansätze folgte als Reaktion der Fideismus – immer aber wird dort, wo die Vernunft einigermaßen frei agieren kann, die religiös-theologische Selbstsicherheit in Frage gestellt (selbst Anselm, der als durchaus rechtgläubig gelten darf, hat mit seinem ontologischen Gottesbeweis eine Diskussion angestoßen, die dem Glauben nicht zuträglich war).
Ebensowenig lässt sich nach Schröder ein irgendwie gearteter Zusammenhang zwischen Naturwissenschaft und Atheismus konstruieren, im Gegenteil: Er behauptet, dass gerade die Naturwissenschaft anfangs den Theismus gestärkt habe. Dies schon aufgrund der Tatsache, weil materialistisch-naturalistische Erklärungen zum einen wenig erfolgreich, zum anderen sogar auf bereits – naturwissenschaftlich widerlegte – Thesen zurückgegriffen habe. Das übersieht aber völlig, dass jede natürliche Erklärung (oder etwa die Wunderkritik, wie sie auch von Spinoza geäußert wurde) einerseits das Auslegungsmonopol der Religion in Frage stellt und andererseits keine noch so abstruse Erklärung, die sich natürlicher Argumente bedient, einer Gotteshypothese nicht zumindest gleichwertig, im Prinzip (ihrer Widerlegbarkeit wegen) sogar überlegen ist. Das noch so häufige Scheitern naturwissenschaftlicher Modelle ist eine Gefahr für Schöpfungs- und Gottesthese, weil es von einer prinzipiellen Erklärbarkeit der Phänomene ausgeht. Schröder bemängelt in diesem Zusammenhang die – recht holprigen – Versuche eines oft kruden Materialismus und sieht dadurch eben den Theismus gestärkt bzw. verweist mehrmals darauf, dass die Gotteshypothese mehr „erkläre“ als diese naturalistischen Ansätze. Aber die Gotteshypothese erklärt gar nichts: Sie stellt dogmatisch fest und hofft, dass damit alles Fragen ein Ende hat. Auch wenn Schröder zu Recht im Hinblick auf den Verfasser der „Essais sur la recherche de la verité“ feststellt, dass „die Tatsache, dass der Verfasser der Essais dennoch an der mechanistischen Erklärung tierischen Verhaltens festhalten will, offenbart, dass sein Antifinalismus dogmatischer Natur ist, dass er sich nicht wissenschaftlichen, sondern antitheologischen Motiven verdankt“, so bedeutet das in keinster Weise, dass damit der Theismus in seiner „Erklärungskompetenz“ gestärkt würde. Hier treffen nur zwei dogmatische Haltungen aufeinander, bei denen der Vorteil sogar im Falle eines widerlegten naturwissenschaftlichen Ansatzes noch immer bei diesem liegt: Ganz einfach deshalb, weil sich diese Widerlegung als falsch herausstellen könnte.
Wenn Schröder die Inkonsistenz der Prinzipienmetaphysik von Meslier kritisiert, geht auch das in eine ähnliche Richtung: Selbstverständlich sind solche – ersten, tastenden – Versuche eine Metaphysik, ganz ohne Gott auszukommen, unvollständig oder auch widersprüchlich wie auch die Konzeption einer natura naturata, die auf eine natura naturans nicht verzichten zu können glaubt. Aber nicht jede „hervorbringende“ Natur ist mit einem simplifizierenden theistischen Modell vergleichbar: Der Big Bang als auslösendes Ereignis lässt zwar einige Fragen offen, ist aber einem Demiurgen betreffs Erklärungswert doch vorzuziehen. Philosophisch stimmig ist also nicht einzig ein „Aggregat von Dingen“, wenn man die natura naturans nicht rein theistisch interpretiert.
Möglicherweise ist diese Sichtweise (und man könnte noch zahlreiche andere Beispiele anführen) der Fixierung des Autors auf seine Quellen geschuldet und dem Bemühen, aus ihnen nur ja nichts herauszulesen, was sich nicht explizit dort findet. Mir hat dieses „Sich-Konzentrieren“ auf den Textcorpus die Lektüre manchmal vergällt, obschon das Buch insgesamt einen ungemein reichhaltigen Fundus atheistischen Gedankenguts bietet. Möglicherweise ist das auch seiner Herkunft aus einer Habilitationschrift geschuldet: Die philosophische Metasicht eines Kondylis in seiner „Metaphysikkritik“ (das an einer solchen Beschränkung nicht litt) scheint mir aber ertragreicher zu lesen als dieses Buch.
*) Ich bin mir der Bedeutung der Quellen für eine wissenschaftliche Arbeit durchaus bewusst: Wenn aber das Verhältnis von Text zu Fußnoten wie im vorliegenden Fall ungefähr gleich ist, so scheint dies (zumindest in der hier veröffentlichen Variante) ein Zeichen von Nachlässigkeit oder auch Faulheit zu sein. Auf Quellen sollte verwiesen werden, ihr Inhalt hingegen in den Text eingearbeitet und dadurch zu erschließen sein. Exzessives Zitieren verweist häufig auf studentisches Zeilenschinden oder aber soll eine Form von Wissenschaftlichkeit suggerieren. (Letzeres würde ich für das vorliegende Buch allerdings ausschließen.)
**) Schröder beleuchtet die Geschichte des Begriffs „Agnostizismus“ und weist darauf hin, dass die weichgespülte Version einer Art von Unentscheidbarkeit keineswegs im Sinne des Begriffserfinders Haeckel gewesen ist.
Winfried Schröder: Ursprünge des Atheismus. Stuttgart, Bad Cannstätt: frommann-holzboog 1998.