Paul Veyne: Glaubten die Griechen an ihre Mythen?

Dieses Buch, das eigentlich nur als Zusatzlektüre zu Herbigs Der Fluß der Erkenntnis gedacht war, verdient eine eigene Besprechung: Nicht, weil man allerlei Wissenswertes über die griechische Mythologie erfährt, sondern weil es vielmehr paradigmatisch ist in seinem Umgang mit dem Begriff der Wahrheit, auf den Veyne immer wieder rekurriert.

Beispielhaft ist die Schreibweise Veynes insofern, als dass er allüberall in diesem seinem Buch von Wahrheit spricht (oder auch von Wahrhaftigkeit, was ganz und gar nicht dasselbe ist), er aber nirgends auch nur in Ansätzen erklärt, was er darunter versteht. Dass er das nicht tut, hat System: Denn dadurch wird es möglich, diese Ungenauigkeit zu benutzen, um dem postmodernen Programm der Relativität einen scheinbar soliden Untergrund zu verleihen (oder besser: Jenen Wahrheitstheorien, die eine solche Basis besitzen, zu unterstellen, dass auch ihnen jene Ungenauigkeit anhaftet, die Veyne für sein unlauteres Vorhaben verwendet).

Wahr, so lernt der angehende Philosoph alsbald, können nur Aussagen sein: „Der Apfel ist grün“ kann wahr sein, sofern der inkriminierte Apfel diese Farbe aufweist. Oder genauer mit Tarski: „Die Aussage ‚Der Apfel ist grün‘ ist wahr dann und nur dann, wenn der Apfel grün ist.“ Mit der in Apostrophen gesetzten Passage wird der Aussagencharakter deutlich gemacht. Davon streng getrennt muss das Kriterium der Wahrheit betrachtet werden: Als die Gesamtheit jener Umstände, aufgrund derer ich zu meinem Urteil gelange. Diese Umstände – und auch das ist trivial – sind niemals so geartet, dass ich mit Gewissheit die Wahrheit einer Aussage behaupten kann. Immer sind Umstände denkbar, die eine solche absolute Gewissheit fragwürdig erscheinen lassen.

Auf dieser Basis gründen sich grosso modo die verschiendensten Wahrheitstheorien, deren bekannteste (und anerkannteste) die Korrespondenztheorie ist: Etwas in der Wirklichkeit entspricht dem Ausgesagten – und aufgrund dieser Entsprechung wird die Aussage als wahr betrachtet. (Wie schon mehrmals an anderer Stelle ausgeführt, kommen um eine solche Bezugnahme auch Kohärenz- oder Konsenstheorie nicht wirklich herum: Ein in sich geschlossenes, logisches (also kohärentes) System wird als wahr nur dann anerkannt werden, wenn ihm etwas in der Wirklichkeit entspricht (weshalb Märchenzyklen oder die Harry-Potter-Serie zwar kohärent, aber nicht wahr sind). Und auch mit der Behauptung eines theoretischen Konsenses „Eine Aussage ist wahr, wenn der Geltungsanspruch der Sprechakte, mit denen wir, unter Verwendung von Sätzen, jene Aussage behaupten, berechtigt ist“ wird seinen Geltungsanspruch nur dann aufrecht erhalten können (vielleicht wird dieser auch nur dann erhoben werden), wenn ihm etwas in der Wirklichkeit entspricht. Der Versuch, ohne einen solche Rekurs auf die Wirklichkeit auszukommen, endet im – möglicherweisen kohärenten – Solipsismus: Den aber ernsthaft zu vertreten noch keinem Philosophen eingefallen ist.*

Veyne schert sich um solche Bestimmungen nicht, für ihn gibt es „wahre“ Politik oder Moral (weil das „Gute“ nach Sokrates auch immer wahr ist), er vermengt – wie erwähnt – Wahrhaftigkeit und Wahrheit (aber jemand kann durchaus wahrhaftig sein, ohne die Wahrheit zu sprechen) und geht für die in Frage stehende Mythen von der vorgeblich den Griechen der damaligen Zeit anhaftenden Denkunmöglichkeit aus, dass über „nichts“ (also völlig freie Erfindungen) gar nicht gesprochen werden kann: Sobald etwas ausgesprochen ist, ist es auch wenigstens teilweise wahr (oder enthält einen wahren Kern).** Nun steht es Veyne selbstredend frei, seine Begriffe nach Belieben zu definieren und von einem „wahren“ Kunstwerk oder einem „wahren“ Freund zu sprechen: Allerdings darf man dann nicht die ansonsten verpönte Korrespondenztheorie verwenden, um die Wirklichkeit seiner als wahr bezeichneten Entitäten zu belegen bzw. das nun schon einigermaßen strapazierte Äpfelchen auf die Realität von Zeus und Europa zu reduzieren.

Denn genau das tut Veyne (und der von ihm im Vorwort erwähnte Foucault als auch diverse andere, mit dem Vorsatz „Post-“ versehene Richtungen): Man behauptet – wie Veyne – eine Art „wahrer“ Realität für Einhörner, Lord Voldemort und die Zahnfee (das ist – wie gesagt – eine Frage der Definition: Diesen Begriffen entspricht ein bestimmter Zustand unseres Gehirns, woraus aber ihre Existenz in der Welt nicht abgeleitet werden kann) und erweckt dann den Anschein, dass damit das korrespondenztheoretische Theoriengebäude erschüttert sei.*** Dabei wird der so trivial anmutende Satz Tarskis vergessen: Denn in dieser Form kann über einen Mythos, über die Politik oder die Moral gar nichts ausgesagt werden. Politik kann dumm sein oder durchdacht, eine Moral akzeptabel oder abstoßend – nie aber sind sie wahr oder falsch. Dabei schwingt immer auch ein gewisses Bedauern über das Versagen von Letztbegründungen mit: Man hätte doch so gerne eine absolute Ethik, eine Regel, die sich für alles und jedes als richtig erweist. Dieser Traum von „wahrer“ Moral oder „wahrer“ Politik (die Demokratie ist nicht „wahrer“ als die Diktatur) ist eine Schimäre; eine solche Gewissheit ist nicht einmal (aufgrund der immer fehlbaren Wahrheitskriterien) im Bereich der ganz handgreiflichen Realität möglich. Was wir jedoch im Bereich dieser Realität haben (und das unterscheidet die Wissenschaft von den Mythologemen): Wir können zwischen besseren und schlechteren Beschreibungen dieser Realität aufgrund rationaler Kriterien unterscheiden – und wir tun dies auch: Sowohl im Alltagsleben als auch in der Wissenschaft.

Und genau so etwas versuchen „Intellektuelle“ wie Veyne durch kryptische, weite Interpretation erlaubende Sätze zu bestreiten. So heißt es bei ihm etwa, dass „das Imaginäre die Wirklichkeit der anderen“ sei. Das klingt schön und klug, ist aber nur Geschwätz: Wir haben einen genauen Begriff des Imaginären und wir setzen diese nicht mit der Realität des Gegenüber in eins. Sondern versuchen Gründe anzugeben, warum eine behauptete Realität als solche nicht angesehen werden sollte und weshalb eine bloße Behauptung noch keine Realität schafft. Das aber hat der Autor schon grundsätzlich nicht verstanden: So findet sich schon zu Beginn der unsäglich dumme Satz, dass noch „keiner jemals bewiesen habe, daß Jupiter nicht existiert hat“. Was nun wirklich nicht überraschend ist: Die Nichtexistenz von etwas existentiell zu beweisen wäre eine contradictio in adiecto. Und so nebenbei sollte es für jeden Intellektuellen (oder auch nur irgendwie Argumentierenden) eine Selbstverständlichkeit sein, dass derjenige, der eine Behauptung aufstellt, auch die entsprechenden Beweise beizubringen hat und nicht dem anderen diese Beweislast auferlegt werden kann. Dieses allzu billige Argument von Religiösen und Esoterikern, die ihre Phantasiegebilde widerlegt sehen wollen, wirkt in diesem Umfeld hochnotpeinlich.

Deshalb ist dieses Buch nichts anderes als ein sich klug gerierendes Geschwätz: Sätze wie „der Unterschied zwischen Fiktion und Wahrheit ist nur sekundär und historisch“ oder die „Möglichkeiten der Vorhersage wird von der Konfiguration eines jeden Polygons (darunter versteht er eine historische Konstellation) abhängen und wird immer begrenzt sein, denn niemals werden wir eine unendliche oder unbestimmte Anzahl von Seiten berücksichtigen können, von denen keine determinierender ist als die andere“ sind entweder dumm (ersteres, wobei die beste Widerlegung dieses hanebüchenen Unsinns der allseits geschätzte und honorige US-Präsident ist: Seither wissen wir sehr viel besser, dass ein Unterschied zwischen Fiktion und Wahrheit besteht und sind bemüht, diesen Unterschied all jenen, die sich dem verweigern, auch klarzumachen) oder bestenfalls trivial (wie zweiteres: Es ist eine Banalität, dass die Qualität der Vorhersage von der mehr oder weniger komplizierten Ausgangslage abhängig ist – das weiß jeder Meteorologe. Aber wir wissen durchaus zwischen guten und schlechten Vorhersagen zu unterscheiden: Sonst wäre der Homo sapiens bereits ausgestorben. Das, was hier unterstellt wird, ist hingegen etwas ganz anderes: Wir können es nicht mit Gewissheit sagen, also wissen wir gar nichts. Dies aber ist nachweislich falsch: Wir wissen einiges, im Grunde überraschend viel und wir richten unser Leben – zumindest kurzfristig – darauf ein. Mit Erfolg.)

Dieses Buch ist ein unverschämter, intellektueller Betrug, der zahlreiche, unredliche Argumentationen bemüht, um einen billigen Relativismus zu propagieren. Wobei es damals wohl einfach nur „schick“ war, sich solcher Phrasen zu bedienen und der Autor die Konsequenzen einer solchen Denkweise nicht in Ansätzen bedacht hat. Die Folgen dieses „Denkens“ werden uns derzeit anhand von „alternativen Fakten“ durch rechtspopulistische Idiotie quer durch alle Nationen präsentiert: Nun hat die Postmoderne nicht einfach diesen Rechtspopulismus hervorgebracht, sie zeigt aber auf frappierende Weise, wie ein den Moden verhaftetes, irrationales Denken anderen (faschistischen oder nationalistischen) Irrationalismen nichts entgegenzusetzen hat. Zeit, dass Logik und Rationalität wieder in Mode kommen.


*) Dass damit die Vielfalt und die Feinheiten der verschiedenen Wahrheitstheorien bei weitem nicht ausgelotet sind, ist mir bewusst: Für das in Frage stehende Buch ist dies irrelevant.


**) Diese Annahme scheint mir völlig unhaltbar: Sobald der Homo sapiens zu einer Lüge (im Sinne der Täuschung) fähig war, wird er zwischen einer frei erfundenen Behauptung und der Wahrheit sehr wohl unterschieden haben. Sonst wäre die absichtsvolle Lüge absurd und paradox.


***) Aus dem „Wahrsein“ wird auf die Realität geschlossen, obwohl ein solcher Schluss nur unter den erwähnten Voraussetzungen möglich ist. Gleichzeitig wird die Realität als solche relativiert: Der so nicht wirklich greifbare Zeus beeinträchtigt die Wirklichkeit des Apfels, der nun möglicherweise auch nur Schimäre ist.


Paul Veyne: Glaubten die Griechen an ihre Mythen? Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1987.

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