Robert Menasse: Die Hauptstadt

Wenn ein österreichischer Autor einen preiswürdigen Roman schreibt, so reagiert die Literaturkritik reflexartig mit einem ebenso dämlichen wie unpassenden Vergleich: Er erinnere irgendwie an Musils „Mann ohne Eigenschaften“, auch wenn die Ähnlichkeiten sich nur auf die Herkunft des Autors beschränken. Nichts in diesem Buch hat etwas mit dem MoE zu tun (abgesehen davon, dass dieses Buch von einer der Hauptfiguren einmal erwähnt wird), vermutlich kennt der betreffende Kritiker (Paul Jandl von der NZZ) keine anderen österreichischen Romane (und den MoE schon gar nicht, weil ihm ein derartiger Nonsens sonst nicht in den Sinn gekommen wäre).

Was natürlich nicht bedeutet, dass „Die Hauptstadt“ ein schlechter Roman wäre, im Gegenteil: Das ist schon alles sehr gut und eingängig gemacht, hat Sprachwitz, Aktualität (obschon diese eher eine Gefahr für den Schreiber darstellt: Sodass man den Roman zwei Jahre später schon als platt und überholt empfindet) und verbindet auf durchaus ansprechende Weise eine originelle Handlung und gelungene Figuren mit dem großen Thema Europa und seinen nationalistischen Mitgliedern. Menasse hat angeblich lange in Brüssel recherchiert und einige Protagonisten sollen realen Personen nachgebildet worden sein: Etwa Fenia Xenopoulou, die aus kleinen Verhältnissen stammende, griechische Karrieristin.

Verschiedene Handlungsstränge werden ineinander verwoben: Das Bemühen der Vereinigung der europäischen Schweinezüchter um einen Vertrag mit China, ein Mord, dessen genaue Hintergründe allerdings bis zum Ende nicht deutlich werden und über allem ein Projekt, dass den Ruf der europäischen Kommission stärken soll. Mit genau diesem Projekt wird – zu ihrem Leidwesen, denn sie hätte sich einen Job in der sehr viel angeseheneren Wirtschaftsabteilung gewünscht – Fenia als Leiterin des Kulturressorts (von den anderen mitleidig als „Arche“ bezeichnet) beauftragt. Und bekommt von ihren Mitarbeitern eine Idee suggeriert, die Auschwitz und das „nie wieder“ in den Mittelpunkt stellen soll: Auschwitz als der Ausdruck eines nationalistischen (und rassistischen) Europas bzw. als dessen Überwindung: Nie wieder!

Diese Idee wird anfangs interessiert aufgenommen, aber alsbald torpediert. Keines der Mitgliedsländer kommt so ganz ohne Patriotismus oder Nationalismus aus und so werden Intrigen gesponnen, geheime Absprachen getroffen, Lobbyarbeit betrieben – und Fenia Xenopoulou sieht ihre hochfliegenden Pläne alsbald scheitern. (Parallel dazu wird ein Thinktank zum Thema Europa eingerichtet: Und der emeritierte österreichische Wirtschaftsprofessor Erhart vertritt dort eine ganz ähnliche Idee. Auch er möchte die innereuropäischen Grenzen für immer überwinden, stellt Pläne für eine gemeinsame Wirtschafts- und Finanzpolitik vor und träumt von einer neuen europäischen Hauptstadt: Die in Auschwitz entstehen soll – ebenfalls als ewige Mahnung für den nun endgültig überwundenen Nationalismus. Aber derartiges wird als Affront empfunden, als Ungeheuerlichkeit.)

Der Roman ist eine Chronologie des Scheiterns: Das PR-Projekt zugunsten der Kommission verläuft ebenso im Sande wie die Vorschläge des schon von vornherein belächelten Thinktanks, der Präsident der Schweinezüchtervereinigung, ein Bruder jenes Mitarbeiters der Griechin, der den Vorschlag mit Auschwitz eingebracht hat, verunglückt auf der Autobahn schwer (weil zwischen Wien und Budapest gerade eine Unmenge Flüchtlinge unterwegss sind) und der Auschwitzüberlebende de Vriendt, der bei den Feierlichkeiten hätte die Überlebenden der Konzentrationslager vertreten sollen, stirbt beim Terroranschlag in der Brüsseler U-Bahn.

All diese Personen werden auf gelungene Art und Weise mit dem Treiben in Brüssel verquickt, jeder bekommt eine originelle Biographie (die manchmal ein wenig überladen wirkt) und alle Pläne, Vorhaben oder Absichten versinken im bürokratischen Sumpf. Der Prozess dieses Niedergangs dokumentiert die Funktionsweise einer Riesenadministration, die sich großteils nur noch selbst verwaltet oder Spielwiese für diverse Nationalismen ist. Das wird mit viel Witz erzählt, manchmal ironisch, noch öfter zynisch oder gar sarkastisch. Politische Visionen von einem geeinten Europa muten lächerlich an, nirgendwo gibt es Menschen, deren Horizont nicht durch die eigenen, egoistischen Interessen blockiert wird.

Ein leicht lesbarer, vielleicht auch kluger und geistreicher Roman – aber zum großen Wurf fehlt dann doch einiges. Die zahlreichen Handlungsfäden werden nicht immer aufgelöst, manches wirkt konstruiert, anderes unbefriedigend: So bleibt das allenthalben auftauchende Hausschwein im Zentrum Brüssels nur Symbol, Anlass für die Darstellung der Boulevardmedien und wirkt schlussendlich ein wenig bemüht geistreich. Menasses Lieblingsprotagonist ist eindeutig der österreichische Wirtschaftsprofessor: Und dessen Ausführungen sind auch gut ausgearbeitet und durchdacht. Doch derlei würde man besser in einen Essay verpacken. Trotzdem ein vergnügliches Buch, das allerdings den von Kritikern erhobenen Ansprüchen nicht gerecht werden kann.


Robert Menasse: Die Hauptstadt. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2017.

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