Hermann Cohen: Logik der reinen Erkenntniss

Zusammen mit (und noch vor) Paul Natorp gilt Hermann Cohen als das Haupt der Marburger Schule des Neukantianismus. Sein Credo war es, dass Kant mit seiner Erkenntistheorie nicht von der alltäglichen Erkenntnis gesprochen habe, sondern spezifisch von der wissenschaftlichen, noch spezifischer der naturwissenschaftlichen. Dies wird in vorliegenden Text schön exemplifiziert. Neben dem Umstand, dass ich zweifle, dass Cohens Kant-Interpretation korrekt ist, verstimmen mich vor allem zwei Punkte:

Da ist einmal die Tatsache, dass Cohen in der Logik der reinen Erkentniss zwar weit in die Geschichte der Philosophie zurückgreift und seine Gedanken an Platon und Aristoteles, ja noch weiter zurück an Pythagoras und Parmenides entwickelt (dabei Idealist, der er ist, Platon immer wieder herauf-, Aristoteles herabsetzend), es jedoch nicht nötig hat, was er (z.B.) einem Platon, was er einem Aristoteles zuschreibt, mit genauen Stellenbelegen zu hinterlegen. So sind seine Aussagen am Text nicht kontrollierbar, und deshalb wirkt, was er sagt, apodiktisch, ja ideologisch.

Des weiteren verfällt er in den gleichen Fehler, den ich auch Dilthey angekreidet habe, und der in der Zeit (Beginn des 20. Jahrhunderts) gelegen haben wird: Auch Cohen hypostasiert Fachbegriffe. „Urteil“, „Logik“, „Denkgesetze“ – sie alle, und noch viele mehr, scheinen aus eigenem Antrieb zu handeln. Damit nehmen apodiktische Aussagen den Anschein naturwissenschaftlicher Beschreibung an und müssen nicht bewiesen oder genauer erklärt werden.

Logik der reinen Erkenntniss ist weniger ein Buch zur Erkenntnistheorie, denn eines zur Wissenschaftstheorie. Allerdings – und da liegt auch einer der Punkte vergraben, warum Cohen so wenig mit Aristoteles anfangen kann – ist Cohens Wissenschaftstheorie gehörig mit Metaphysik unterfüttert. So lassen ihm z.B. Kants Kategorien des Urteils keine Ruhe, und er versucht, sie an die Gegebenheiten und an die Wissenschaft des beginnenden 20. Jahrhunderts anzupassen. Die Wissenschaft, deren Erkenntnisgesetzen er beschreibend näher zu kommen sucht, ist noch die Physik und Mathematik aus der Zeit vor der Relativitätstheorie. Es ist die mathematische Naturwissenschaft eines Descartes, eines Newton, eines Galilei, eines Kepler, auf die er auch immer wieder zurück greift. Cohen teilt die Wissenschaften in seiner Theorie in zwei Reihen ein: die Natur- und die Geisteswissenschaften. Letztere werden mehr durch Ethik geregelt (diese dann allerdings auch wieder durch eine Logik), und Cohen erwähnt sie hier nur am Rande. Die Naturwissenschaften sind ihrerseits wiederum zweigeteilt. Da sind die eigentlichen mathematischen Naturwissenschaften. Paradigmatisch dafür steht die Physik. Dann gibt es sog. beschreibende Naturwissenschaften. Hier ist die Biologie paradigmatisch – eine Biologie, die Darwin kennt. (Darwins evolutionstheoretischer Begriff der ‚Species‘ wurde für Cohen zum Paradigma einer ‚Idee‘ im Kant’schen Sinn: eine Hilfskonstruktion des Denkens, der in der Realität kein konkretes ‚Ding‘ entspricht.)

So weit zur Erkentniss im Titel. Die Logik ist (bei allen Vorbehalten Aristoteles gegenüber) die von diesem alten Universaldenker entwickelte, wie sie von Kant metaphysisch unterfüttert worden ist. Der Begriff formale Logik und auch die englischen Logiker werden zwar von Cohen erwähnt bzw. en passant angegriffen. Auf wen er aber genau zielt, ist mir nicht klar. Frege scheint er nicht zu kennen. Von Russell gab es damals erst einen Text zur Logik – einen, den Russell später selber verworfen hat, weil er noch zu sehr an Kant(!) orientiert war.

Im übrigen will mir Cohens Wissenschaftstheorie weniger kantianisch erscheinen, denn Leibniz’sch. Monadisches Denken scheint mir Cohen näher zu stehen als Kants Ideenlehre. Das liegt u.a. auch daran, dass Leibniz‘ Infinitesimalrechnung für Cohen als Paradigma mathematischer Anwendung in den Naturwissenschaften galt.

Alles in allem kein uninteressantes Buch, auch wenn nach dessen Lektüre klar ist, warum der Neukantianismus Marburger Provenienz philosophisch nicht überleben konnte: Gerade in seiner Ausrichtung auf die Naturwissenschaften war er zur Zeit seiner Blüte im Grunde genommen bereits wissenschaftsgeschichtlich veraltet.

Logik der reinen Erkenntniss ist gemäss Vorsatzblatt Erster Theil eines Systems der Philosophie. Ich werde mir so schnell keine weiteren Teile mehr antun.


Hermann Cohen: Logik der reinen Erkenntiss [sic!]. Berlin: Bruno Cassirer, 1902.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert