Philip K. Dick: A Scanner Darkly [Der dunkle Schirm]

Anaheim, Kalifornien, im Jahre 1994: Eine neue, hochgradig wirksame und rasch süchtig machende Droge namens Substance D ist auf dem Markt, wobei D in der Terminologie der Süchtigen für ‚Death‘ steht, den Tod. Denn auf jeden Benutzer dieser Droge wartet ein sicherer und frühzeitiger Tod. Wir folgen rund einen Monat lang den Geschehnissen rund um eine Gruppe Süchtiger mit dem Protagonisten Bob Arctor. Arctor heisst eigentlich Fred und ist Uncercover-Agent der Antidrogen-Einheit der Polizei. Man hat ihn in die Szene eingeschleust in der Hoffnung, von unten her an die grossen Verteiler, ja vielleicht gar an die Hersteller der Droge zu kommen. Um nicht aufzufallen, muss Fred/Bob Substance D selber einnehmen. Es kommt, wie es kommen muss: Er wird süchtig. Mehr noch: Auch sein Hirn wird, wie das von so manchem Süchtigen, irreversibel geschädigt. Es ist die zynische Pointe des Romans, dass dies von seinen Vorgesetzten nicht nur als Risiko einkalkuliert, sondern von Anfang an beabsichtigt war. Nur so kann er in eine Rehabiliationsklinik eingeschleust werden, die schon lange im Verdacht steht, Drogensüchtige nicht nur zu pflegen, sondern auch die Droge herzustellen. Und der debile Bob (der in der Klinik jetzt Bruce heisst) kann tatsächlich die Blume, aus der die Droge extrahiert wird, beiseite bringen. Ein kleines Happy Ending im ansonsten sehr deprimierenden Roman über den Zerfall der Persönlichkeit, die ein konstanter und systematischer Gebrauch von Drogen mit sich bringt.

Es geschieht ansonsten sehr wenig Substanzielles auf den rund 250 Seiten, die der Roman in meiner Augabe umfasst. Wir folgen den Wahnvorstellung der Süchtigen, die in einer derart realistischen Form präsentiert werden, dass wir den Pychosen auch als aussenstehende Leser beinahe selber zum Opfer fallen. Wir folgen vor allem der langsamen Zersetzung von Fred-Bobs Denken, der als Fred vor dem Bildschirm beim Anschauen der Aufnahmen der Überwachungskameras nicht mehr in der Lage ist, im Drogenabhängigen Bob auf dem Schirm sich selber zu identifizieren, sondern von ihm denkt und redet wie von einer Drittperson. Wir folgen den hitzigen Diskussionen von drei Protagonisten, wenn sich der eine ein Rennrad mit 10 Gängen gekauft hat (dies warum auch immer – eigentlich ohne wirklichen Grund, ausser, dass er es günstig erhalten hat, wohl weil es geklaut war), und sie nun 3 Gänge vermissen, weil sie vorne zwei Zahnradkränze finden und hinten fünf, und nicht mehr in der Lage sind, den Zusammenhang zwischen den zwei vorderen und den fünf hinteren korrekt herzustellen. Der Beispiele gäbe es noch mehr.

Handelt es sich bei A Scanner Darkly Science Fiction?

Nur bedingt. Philip K. Dicks Romane werden alle als ‚Science Fiction‘ gehandelt. (Tatsächlich ist er mit Versuchen, offen Non-Science-Fiction zu verkaufen, immer gescheitert.) Aber ausser der Tatsache, dass dieser Roman mit dem Jahr 1994 in einer vom Erscheinungsjahr 1977 aus gerechnet (nahen) Zukunft spielt, und dass die Undercover-Ermittler über einen Tarnanzug verfügen, der es verunmöglicht, dass Gesicht und Stimme erkannt werden können, sind keine Elemente von Science Fiction auszumachen. Das Kalifornien von 1994 des Romans gleicht so ziemlich dem Kalifornien von 1977.

Handelt es sich bei A Scanner Darkly eine Dystopie?

Auch hier: Nur bedingt. Die Subkultur der Drogenabhängigen ist nicht mit der Kultur des Rests des Universum gleich zu setzen. Dicks Roman ist nicht politisch oder gesellschaftskritisch. Der einzige Hinweis auf eine Dystopie ist die Tatsache, dass offenbar die Wohlhabenden im Jahre 1994 in Condominios leben – Siedlungen hinter Mauern und mit Sicherheitspersonal umgeben, sowie der Umstand, dass Einkaufszentren ebenfalls hinter Mauern stehen und ein Zutritt nur mit der richtigen Kreditkarte möglich ist. (Die die Drogenabhängigen natürlich nicht besitzen.)

Autobiografie

Vieles an A Scanner Darkly ist autobiografisch motiviert. Dick sagt von sich selber in der Author’s Note: I myself was one of these children playing in the street; I was, like the rest of them, trying to play instead of being grown up, and I was punished. Er hat eine Zeitlang selber Drogen konsumiert, hat selber erlebt, wie seine Drogenfreunde durch ihren Drogengebrauch irreversible Schäden an Leib und Seele erlitten, und er zählt eine ganze Liste von ihnen auf.

Literarische Anspielungen

Diese ‚Kinder‘ sind keineswegs ungebildete Leute. Schon die Anspielung im Titel, die auf die King-James-Übersetzung des ersten Korintherbriefs, Kapitel 13 (through a glass, darkly – in der deutschen Einheitsübersetzung: Jetzt schauen wir in einen Spiegel und sehen nur rätselhafte Umrisse.) Fred blickt in einen Bildschirm (im Original: Scanner), aber auch er sieht nur noch rätselhafte Umrisse. (Der Vergleich allerdings mit dem Wort des Apostels Paulus fällt ihm sofort ein.)

In Bobs Haus stehen nicht nur Bücher; sie werden auch (manchmal) gelesen und / oder zitiert. So stolpern wir plötzlich in eine Diskussion über ein Zitat aus einem der Werke von Teilhard de Chardin. Als einer der Protagonisten Selbstmord begehen will, drapiert er nicht nur die letzte unbezahlte Rechnung in seinem Bett um sich, sondern auch ein Buch von Ayn Rand. Das soll den Eindruck erwecken, es habe sich bei ihm um ein unverstandenes Genie gehandelt. (Der Dealer, bei dem er die angeblich tödlichen Barbiturate gekauft hat, hat ihn allerdings übers Ohr gehauen: Er wacht am nächsten Morgen wieder auf; nur geht es ihm eine Zeitlang hundsmiserabel.)

Last but not least ist da der unterdessen zum debilen Bruce gewordene ehemalige Polizist, der in seinem Geist Strophenfetzen von Werken der deutschen Romantik hört – im Original auf Deutsch. Bruchstücke aus Goethes Faust, aus Heines Buch der Lieder, aus Beethovens Fidelio, aus Wagners Siegfried.

Summa summarum: Ein deprimierender Roman. Aber äusserst lesenwert.

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