Zusammen mit seinem Lehrer Hermann Cohen war Paul Natorp Oberhaupt der sog. Marburger Schule des Neukantianismus. Die Marburger Schule setzte bei Kant dort ein, wo dieser die Erkenntnis aus dem Dilemma von Empirismus vs. Rationalismus löst, indem er festhält, dass uns zwar die Dinge in der Erfahrung und nur in der Erfahrung gegeben sind, aber zugleich nur gedacht werden können mit Hilfe der auf sie als Erscheinungen bezogenen Kriterien der reinen Vernunft. Dass wir von der Welt nur durch Erfahrung wissen, ist unzweifelhaft; aber damit dürfen wir unsere Erkenntnisweise von der Welt nicht auf empirische Erkenntnis reduzieren. Hier setzt die Marburger Schule ein und fragt: Was genau meint Kant mit „Erfahrung“? Und kommt zum Schluss, dass Kant nicht eine vorwissenschaftlich-lebensweltliche Erfahrung gemeint haben kann, sondern die Erfahrung des Naturwissenschafters, der im Sinne der von Newton kanonisierten modernen exakten Naturwissenschaft Mathematik auf das in der Natur Erfahrene anwendet. (Besser als der Herausgeber meiner Edition, Sebastin Luft, kann ich es auch nicht ausdrücken – hier zitiert seine Einleitung, S. xvii.) (Man hat denn auch der Marburger Schule vorgeworfen, aus Kants Transzendentalphilosophie Kritik der modernen Naturwissenschaft gemacht zu haben: Wissenschaftstheorie.)
Die obigen Ausführungen sind wohl genug, um den Leser darauf vorzubereiten, dass wir bei Natorps Spätwerk Allgemeine Psychologie nach kritischer Methode keine „Psychologie“ im heutigen Sinne vor uns haben, sondern Wissenschafts- und Erkenntnistheorie bis hin zu einer Beschäftigung mit dem Leib-Seele-Problem. Das Dilemma der Marburger (und der damaligen Philosophie im Allgemeinen) war es, dass einerseits gewisse Dinge oder Verfahren davor gerettet werden mussten, ins Ich hinein genommen zu werden, sollte nicht ein allgemeiner Psychologismus um sich greifen – eine Beliebigkeit der Verfahren, in der selbst Logik und Mathematik nur als Denkmittel eines Individuums (oder auch der ganzen Menschheit) galten und keineswegs als Konstanten der äusseren, nicht-menschlichen Natur. Andererseits würde eine völlige Zergliederung der Erkenntnisfähigkeiten des Menschen aus diesem letzten Endes blosse, tote Materie machen. Natorps Lösung ist es, neben dem Bewusstsein des Menschen eine Bewusstheit zu postulieren – eine Entität, an der zwar jeder Mensch teil hat, die aber mehr ist als nur Teil eines oder aller Menschen.
Damit näherte sich die Marburger Schule der Phänomenologie. Husserl hat die Allgemeine Psychologie nach kritischer Methode mit Interesse gelesen und viel für seine Gegebenheit der Dinge darin gefunden, der noch vorexistenzialistische (also phänomenologische) Heidegger von Sein und Zeit ebenso. Natorp war sich dieser Nähe durchaus bewusst – ein Elftes Kapitel hat zum Inhalt eine Kritische Übersicht über sonstige Theorien: Wundt, Lipps, Husserl, Dilthey, und ein Zwölftes Kapitel fügt noch Münsterberg und Bergson hinzu. Letzterem wirft er zwar starke mystische Tendenzen vor, dennoch ist gerade die Nähe, in der Natorps Bewusstheit zu dessen Élan vital steht, unübersehbar. Natorps Dilemma war letzten Endes so, wie er es anging, nicht auflösbar, ohne dass er selber in Mystik versank.
Philosophiegeschichtlich ein interessantes Dokument; leider ist der Neukantianismus zu Unrecht in Vergessenheit geraten.
Paul Natorp: Allgemeine Psychologie nach kritischer Methode.Herausgegeben, kommentiert und mit einer Einleitung versehen von Sebastian Luft. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2013.