Edgar Wallace: The Four Just Men [Die vier Gerechten]

In der Bibliothek meines Vaters (sofern man rund 120 Bücher eine Bibliothek nennen will) – in der Bibliothek meines Vaters also nahmen sie einen prominenten Platz ein: die Taschenbuchausgaben von Kriminalromanen des Goldmann-Verlags. Nicht nur, dass sie wegen ihrer ziegelroten Farbe aus den übrigen Büchern herausstachen: auch wegen ihrer schieren Menge. Und von diesen ziegelroten Goldmännern waren wiederum die meisten Krimis von Edgar Wallace. Mein Vater besass nicht nur die heute im deutschen Sprachraum üblicherweise mit dem Namen Edgar Wallace verbundenen Romane. Hier haben ja die deutschen Verfilmungen der 1960er Jahre vor allem Titel wie Der Frosch mit der Maske, Der Hexer oder Das Wirtshaus an der Themse im Bewusstsein der Bevölkerung verankert. Bei meinem Vater aber stand auch weniger Bekanntes in der Bibliothek, neben Krimis sogar ein paar von Wallace‘ Afrika-Romanen um Sanders vom Fluss. Und unter den Krimis befand sich natürlich auch Die vier Gerechten. (In England übrigens sind The Four Just Men ebenso bekannt, wie andere Stories von Wallace. Der 1905 erschienene Roman wurde noch als Stummfilm adaptiert, später gab es auch Verfilmungen mit Ton und – nach Wallace‘ Tod – eine TV-Serie. Der Erfolg veranlasste Egdar, weitere Bücher mit seinen Gerechten zu schreiben.)

Die vier Gerechten stehen kriminalromantechnisch in der Tradition des ‚locked room mystery‘. Im ‚locked room mystery‘ ist noch wichtiger als die Lösung der Frage ‚Wer war es?‘ die der Frage ‚Wie wurde es gemacht? Wie ist der Täter oder die Täterin in den Raum gekommen, der keinerlei von aussen zu öffnende Zugänge hatte, bwz., wo diese Zugänge unter ständiger Beobachtung von zuverlässigen und von einander unabhängigen Zeugen waren?‘ Schon der allererste Kriminalroman der modernen Literaturgeschichte, The Murders in the Rue Morgue von Edgar Allan Poe, ist so ein ‚locked room mystery‘. Weitere bekannte Vertreter sind Arthur Conan Doyles The Speckled Band mit Sherlock Holmes, Sheridan Le Fanus Uncle Silas oder Wilkie Collins‘ Kurzgeschichte A Terrible Strange Bed. Der Kriminalroman des späten 20. und des frühen 21. Jahrhunderts allerdings scheint die Fähigkeit des kunstvollen Rätselbaus verloren zu haben. Die Folio Society hat 2017 dem ‚locked room mystery‘ eine kleine Reihe von 3 Bänden gewidmet. Neben Edgar Wallace‘ The Four Just Men beinhaltet diese noch The Mystery of the Yellow Room (wo das Geheimnis schon im Titel steckt!) von Gaston Leroux und The Hollow Man von John Dickson Carr. Diese Titel werden später ebenfalls hier vorgestellt werden.

Nun aber zu den Vier Gerechten. Die Vier Gerechten, die eigentlich nur drei sind, denn der vierte wurde ad hoc rekrutiert, um eine Spezialaufgabe zu erfüllen, stellen eine Gruppe wohlhabender Nichtstuer dar. Die drei sind der Meinung, dass in gewissen Fällen der Gerechtigkeit durch den üblichen Lauf der staatlichen Strafverfolgung und Justiz nicht Genüge getan wird, und nehmen in diesen Fällen das Heft selber in die Hand. Sprich: Sie bringen einen durch korrupte staatliche Organe gedeckten oder diese gar vorstellenden Bösewicht selber um. Die drei waren tatsächlich einmal vier; aber einer von ihnen hatte das Pech, dass ihm die Polizei trotz aller Vorsichtsmassnahmen auf die Spur kam. Er starb (noch vor Beginn der Ereignisse, die in The Four Just Men geschildert werden) bei einer Schiesserei mit der Polizei in Bordeaux. In The Four Just Men geht es darum, dass der britische Aussenminister Sir Philip Ramon ein Gesetz durchs Parlament bringen will, dass es Grossbritannien erlauben würde, fragwürdige ausländische Existenzen ohne grosses Federlesen in ihr Herkunftsland zurückzustellen. Dieses Gesetz hätte nach Ansicht der Gerechten zur Folge, dass so und so mancher hehrer Freiheitskämpfer, der der Justiz seines Landes entkommen ist, doch noch seinen Schergen ausgeliefert würde. Die Gerechten greifen also ein. Sie fordern Sir Philip Ramon auf, seinen Gesetzesentwurf zurückzuziehen. Andernfalls würden sie ihn zu einem genau angekündigten Zeitpunkt umbringen. Ramon zieht den Entwurf nicht zurück, und wir erleben, wie ein immer dichter werdender Kordon von polizeilichen Schutzmassnahmen um ihn gezogen wird. Zum Zeitpunkt, als der Mord geschehen soll, befindet sich Ramon tatsächlich in seinem hermetisch von innen verriegelten Büro. Vor der Tür und vor dem Haus wimmelt es von Polizei.

Ein klassisches ‚locked room mystery‘ also: Die Täter sind von Anfang an bekannt, das Opfer ebenso, und es geht wirklich nur darum, ob und wie es den Tätern gelingen wird, in den hermetisch abgeschlossenen Raum einzudringen und ihre Tat auszuführen. (Edgar Wallace war von der Genialität seiner Lösung so überzeugt, dass er The Four Just Men ursprünglich ohne das abschliessende Lösungskapitel veröffentlichte, mit der Aufforderung an seine Leser, ihm – gegen Belohnung – die Lösung einzuschicken. Das endete mit einem finanziellen Fiasko für ihn, weil doch ein paar mehr, als von Wallace gedacht, die Lösung fanden. In the long run allerdings bedeutete The Four Just Men den Startschuss für eine einmalige schriftstellerische Karriere.)

Interessant – interessanter noch als das eigentliche Rätsel – ist in diesem Roman aber die Psychologie des Opfers. Während die Täter – obwohl sie genau diesen Vergleich weit von sich weisen – eigentlich nur romantisierte Versionen der damals häufig auftretenden Anarchisten sind, wie sie vor allem in Russland mit Bombenanschlägen von sich reden machten, ist die Art und Weise, wie Ramon mit sich ringt, wie sein Lebenserhaltungstrieb kämpft mit seinem Stolz und dem Bewusstsein, moralisch mindestens so im Recht zu sein, wie seine Widersacher, eine Lektüre wert. Denn dieses Ringen macht aus einem ansonsten an einem ruhigen Nachmittag zu lesenden literarischen Kurzfutter eine nicht uninteressante psychologische Studie und hebt diesen frühen Roman Wallace‘ aus der später von ihm gelieferten Massenproduktion heraus.

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