Die Erzählsituation wechselt: Mal ist es Walters Bruder Robert, dann seine Mutter, zumeist aber er selbst, Briefe von Angehörigen werden eingestreut. Aber durch die Änderung der Perspektive gelingt eine differenziertere Darstellung, man ist (scheinbar) nicht nur mit der subjektiven Sicht des Autors konfrontiert. So kommt auch das Leid, die Verzweiflung der Betroffenen nur indirekt zum Ausdruck, wenn etwa Robert das Abmagern und langsame Dahinsiechen seines Bruders beschreibt, der mit dem Gefängnisalltag weniger gut klarkommt. Ähnlich ist es bei der Mutter: Man erfährt so ganz nebenher, dass sie kaum mehr als 40 kg wiegt und wegen ihrer Magenprobleme wohl öfter an der Kippe zum Tod stand. Denn eingesponnen in diese Tragik ist die einfühlsame und humorige Beschreibung des Lebens in den Haftanstalten, sind Porträts seltsamer Originale, kurioser Situationen. Dadurch haftet der Darstellung etwas Satirisches an, eine gewisse Leichtigkeit, die dem Ungeheuerlichsten noch Witz abgewinnen kann.
Es sind weniger die Altnazis, denen der Hass der neuen Machthaber gilt, sondern jene, die sich dem Arbeiterparadies widersetzen, denen Verzicht auf Individualität und Gleichschaltung des Denkens zuwider sind. Weshalb es vielen ehemaligen Nationalsozialisten nicht weiter schwer fiel, sich auch in die neuen Verhältnisse zu fügen, sie mussten bloß eine Diktatur gegen die andere eintauschen. Auch Willkür und Ohnmacht waren bekannt, ebenso die Sippenhaftung: Denn die Verurteilung der Mutter (die den Söhnen verständlicherweise am meisten zu schaffen macht) ist völlig unbegründet, man ist den Sowjets ebenso ausgeliefert wie zuvor den Nazis.
Indem Kempowski auf eine explizite Darstellung der Gefängnisgräuel weitgehend verzichtet, kann er sich der Befindlichkeiten der Inhaftierten widmen, kann indirekt Tod und Verzweiflung schildern, ohne sich pathetischer Mittel zu bedienen. Der Humor ist Galgenhumor, er zeigt das Überleben in Extremsituationen, die Entstehung seltsamer Gemeinschaften und abstruser Hobbies, die allesamt dem Überleben dienen, der Hoffnung, irgendwann dann doch begnadigt und nach Jahren (ebenso grundlos) vorzeitig entlassen zu werden (die Mutter musste 5, die Brüder 8 Jahre absitzen). Eine bunt zusammengewürfelte Gesellschaft versucht der endlosen Gefängniszeit zu entkommen, hält sich aufrecht durch die immer wieder sich verbreitenden Gerüchte von vorzeitigen Entlassungen. Eine satirisch anmutende Schilderung der Trostlosigkeit, die unter die Haut geht.
Walter Kempowski: Ein Kapitel für sich. München: DTV 1978.