Über die Habsburgermonarchie und deren Untergang schreiben, heisst offenbar auch immer, Musils Mann ohne Eigenschaften zitieren. Auch Hannes Leidinger kann nicht anders, und so finden wir als einleitendes Kapitel von Teil III den Abschnitt Geschichte und Kakanien oder: „Ulrichs Welt“. Allerdings verlässt Leidinger im Verlaufe des Textes die Literatur- oder Kulturgeschichte gänzlich (nur Hofmannsthal und Schnitzler werden noch als für die Doppelmonarchie typische Autoren erwähnt), nicht ohne allerdings auf S. 69f noch Musil-Ulrichs berühmte Definition des Doppelstaats zu zitieren:
Das österreichisch-ungarische Staatsgefühl war ein so sonderbar gebautes Wesen, daß es fast vergeblich erscheinen muß, es einem zu erklären, der es nicht selbst erlebt hat. Es bestand nicht etwa aus einem österreichischen und einem ungarischen Teil, die sich, wie man dann glauben könnte, ergänzten, sondern es bestand aus einem Ganzen und einem Teil, nämlich aus einem ungarischen und einem österreichisch-ungarischen Staatsgefühl, und dieses zweite war in Österreich zu Hause, wodurch das österreichische Staatsgefühl eigentlich vaterlandslos war.
Und, auch wenn Leidinger auf den restlichen Seiten Musil nicht mehr anspricht, so kann man doch sagen, dass er im Grossen und Ganzen dessen Aussage bestätigt. Allerdings macht er es sich nicht so einfach und äussert sich so apodiktisch wie Ulrich. Eines seiner Kapitel heisst nicht umsonst Die Unzulänglichkeit der einfachen Erklärungen. Dass er diesem impliziten Ratschlag selber folgt, zeigt sich z.B. in seiner Darstellung der Selbstmord-Problematik. Die von Zeitgenossen gefühlte und bis heute zitierte unverhältnismässig hohe Selbstmordrate in der k. u. k. Doppelmonarchie lässt sich nämlich statistisch nicht nachweisen – es fanden in Österreich-Ungarn eher weniger Selbstmorde statt als in andern europäischen Ländern jener Zeit. Auch unter Schülern. (Vielleicht, so scheint mir Leidinger zu suggerieren, liegt dieses immer wieder kolportierte Nicht-Tatsache in einer Art Prophezeiung ex post begründet. Wir neigen auch im 21. Jahrhundert immer noch dazu, die kakanische Zeit vor dem Ersten Weltkrieg als melancholische Epoche zu verklären. (Woran m.M.n. Musils Mann ohne Eigenschaften nicht unschuldig ist!) Und so mag auch das Erscheinen zweier berühmter österreichischer Selbstmörder das Bild jener Epoche unverhältnismässig geprägt haben: Weiningers und Trakls.)
Sicher: Die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg war eine Zeit grosser Unsicherheit. Es war – nicht nur in Österreich-Ungarn – eine Zeit, in der alle Sicherheiten wankend wurden. Die Psychoanalyse zeigte, dass selbst das Ich nicht die Kontrolle im eigenen Haus hatte. Diese Unsicherheiten galten zwar nicht nur in Österreich-Ungarn, hatten dort aber nachgerade tragische Konsequenzen, weil der historische Kompromiss, mit dem frühere Unsicherheiten abgefedert wurden, – zuerst nach den Kriegen mit Napoléon, dann nach den Geschehnissen von 1848 – weil dieser Kompromiss, der das fragile Konglomerat der Habsburgermonarchie definierte, erneut Unzulänglichkeiten zeigte. Dass Österreich-Ungarn nicht in der Lage war – wie nach Napoléon, wie nach 1848 – sich abermals neu zu erfinden, schiebt Leidinger dann – ganz Musil-Ulrichs oben zitiertem Diktum folgend – vor allem Ungarn in die Schuhe, das sich dagegen wehrte, unter Einbezug von Böhmen und Mähren aus der Doppel- eine Tripelmonarchie zu machen. Von einem Einbezug Südslawiens konnte schon gar nicht die Rede sein. Leidinger zeigt anhand von Aussagen führender Militärs und Politiker, wie für die Ungarn (aber auch für die Österreicher!) vor allem die südslawischen Gebiete und Völker denselben als gefährlich empfundenen Nicht- und Untermenschenstatus einnahmen, den für andere Nationen jener Zeit die Gebiete und Völker ihrer Kolonien hatten. So ist es kein Wunder, wenn in den einzelnen Gebieten Österreich-Ungarns jedes Volk zusehends nationalistische Züge entwickelte. Der Rückzug auf den eigenen ‚Stamm‘ scheint eine typisch menschliche Eigenschaft in Zeiten der Verunsicherung zu sein – was man, auch wenn Leidinger das nicht anspricht, gerade heute wieder sehen kann.
Der grosse Teil des Buchs besteht in einer politisch-ökonomischen Analyse der Geschehnisse des Ersten Weltkriegs. Dabei spielt nicht nur die Vogelschau der grossen Weltpolitik eine Rolle. Leidinger gibt dem Ganzen Kolorit, indem er immer wieder aus Tagebüchern und Briefen ganz gewöhnlicher, ‚kleiner‘ Leute zitiert, Arbeiter und in der Landwirtschaft Tätige. Ob die grausamen Taten der Militärs (die ganze Landstriche entvölkerten, weil ihnen jeder Nicht-Österreicher, jeder Nicht-Ungare per se verdächtig war, man aber auf genaue Untersuchungen verzichtete, sondern einfach mal erschoss, erwürgte, erhängte, vergewaltigte), ob die Demoralisierung der Truppe selber, ob das schon rasch entstehende Flüchtlingselend (zwischen den kriegsführenden Nationen, aber auch innerhalb Österreich-Ungarns flossen wahre Ozeane von Flüchtlingen – in der Fremde so unwillkommen die ‚daheim‘), ob der immer stärker werdende Antisemitismus (auch hier ausgelöst durch das ‚Fremde‘, d.h., vor allem konservative, aus Galizien geflüchtete Juden, die sich seltsam kleideten und nur Jiddisch sprachen), ob die in der Folge des Kriegs mit seiner Zerstörung der Ernten einher gehende Nahrungmittelknappheit, die zu einer Hungersnot ausartete – immer wieder stellt Leidinger dies aus der Sicht der Betroffenen dar.
Keines dieser Probleme war im Übrigen mit dem offiziellen Ende des Ersten Weltkriegs beendet. Der Antisemitismus z.B. blühte vor allem in Ungarn prächtig. Dessen Staatsoberhaupt, Miklós Horthy, war bekennender Antisemit. Allerdings hatte er auf die 1944 unter deutschem Befehl durchgeführten Massendeportationen der ungarischen Juden kaum Einfluss – er war zu der Zeit von den Deutschen bereits mehr oder weniger kalt gestellt worden.
In seiner Analyse sowohl des Auslösers des Ersten Weltkriegs wie von dessen Ende – das auch das Ende der Habsburgermonarchie bedeuten sollte – geht Leidinger mit den verantwortlichen Stellen Österreich-Ungarns schonungslos ins Gericht. Kurzsichtige, engstirnige, oft die Situation falsch einschätzende Führungspersönlichkeiten (er nimmt die beiden Kaiser nicht von diesem Urteil aus – so glaubte man z.B. bis in den Kaiserhof hinein zu Beginn des Kriegs, es werde sich um eine nur kurze Intervention gegen Serbien handeln, und selbst diese Intervention war von einem völlig irrationalen Hass gegen den südlichen Nachbarn geprägt: objektiv bestand kein Grund, hier etwas vom Zaun zu reissen, aber die führenden Leute hatten sich in diesen Serbenhass geradezu verbohrt und er blendete ihr Urteilsvermögen) – Fehlschlüsse und Fehleinschätzungen also haben die Doppelmonarchie ins definitive Verderben gestürzt. So kommt Leidinger zum Fazit (und zum Schlusssatz):
Das Habsburgerreich ging vor allem auch an seinen Eliten zugrunde.
In diesem Buch finden wir eine über die konkrete Analyse eines konkreten Falls hinausgehende Wahrheit zum Thema ‚politische Entscheidungsfindungen‘, weshalb auch ich als Schweizer das Buch durchaus empfehlen kann – auch für Nicht-Österreicher empfehlen kann.
Hannes Leidinger: Der Untergang der Habsburgermonarchie. Innsbruck, Wien: Haymon, 2017. Vom Verlag als Rezensionsexemplar erhalten.