Victor Hugo: Die Arbeiter des Meeres [Les travailleurs de la mer]

Schauplatz dieses Romans ist die Insel Guernsey. Victor Hugo hat dort mehrere Jahre seines Lebens im Exil verbracht, er kannte also Land und Leute gut. Dennoch stellte sich mir vor Beginn der Lektüre die bange Frage: Kann Victor Hugo, den ich aus Les misérables als grossartigen Schilderer von Paris und seinen Einwohnern kenne, kann dieser Meister des Grossstadt-Romans also das Land beschreiben? Eine Insel und deren Bewohner? Das Leben auf einer Insel? Am Meer? Auf dem Meer und im Meer? Überhaupt das Meer?

Doch schon die ersten Kapitel des Romans schlugen mich in ihren Bann. Klippen-Sätze für einen Klippen-Roman überschreibt der Übersetzer und Herausgeber meiner Ausgabe, Rainer G. Schmidt, sein Nachwort. Und für einmal empfinde ich die Metapher eines Herausgebers als stimmig. Steil aufragende, hinter einander verkeilte Sätze vermitteln in diesem Buch eine ganz eigene Atmosphäre. Und so hat mich schon seit langem kein Roman mehr gleich mit den ersten Worten derart zu packen gewusst, wie dieser. Der letzte war wohl Peter Weiss‘ Ästhetik des Widerstands. Doch wenn dieser vielleicht noch wuchtiger und brutaler eingestiegen ist als Victor Hugo, so verflacht er auch im Folgenden um so mehr. Victor Hugo hält durch.

Steil aufragend, hinter einander gekeilte Sätze vermitteln in diesem Buch eine ganz eigene Atmosphäre, habe ich gesagt. Zusammen mit dem immer wieder, wenn auch ganz versteckt und subtil, ironisch kommentierenden auktorialen Erzähler verhindern sie, dass der Roman trotz keineswegs mangelnder diesbezüglicher Szenen im melodramatischen Kitsch versinkt, wie es fast alle Romane von Dickens tun.

(Achtung: Wer sich von der Entwicklung dieses Romans überraschen lassen will, sollte den folgenden Paragraphen nicht lesen!)

Dabei ist es keineswegs so, dass Hugo auf Melodramatik verzichtet. Er ändert ja nicht nur nötigenfalls die lokale Geografie ab, damit sie den dramaturgischen Bedürfnissen seines Romans Genüge tut. Er erfindet auch einen Kraken, der – eine Art lokale Nemesis – den grossen Verbrecher des Romans unter Wasser zieht und dort tötet, indem er ihm mit seinen Saugnäpfen das Blut aus dem Körper saugt. Der Gute hingegen vermag in einem dramatisch geschilderten Kampf den Kraken zu töten. Diese Szene ist der Höhepunkt des Romans, der Höhepunkt auch des Ruhms, den Hugo seinem ‚Helden‘ Gilliard zukommen lässt. Es ist bezeichnend für Hugo, dass dieser Ruhm quasi privat bleibt. Nachdem Gilliard in mehrmonatiger Arbeit den Dampfmotor, das Symbol des Fortschritts, der auch auf Guernsey Einzug halten wird, aus dem Wrack des Transportbootes eines Landsmanns vor dem endgültigen Versinken in den Fluten gerettet hat – dies alles nur, weil der Besitzer öffentlich dem, der die Maschine retten würde, die Hand seiner Tochter versprochen hat –, muss er mitanhören, wie sich diese Tochter und der absolut lebensuntüchtige lokale Pfarrer gegenseitig ihre Liebe gestehen. Gilliard, der verschlossene und nach aussen mürrische Einzelgänger, hatte diese Tochter schon seit Jahren geliebt. Doch noch einmal wächst er – und wiederum ganz privat – über sich hinaus. Er verhilft der geliebten Frau und ihrem Galan zur Ehe und zur Flucht vor der väterlichen Wut, bevor er sich dann auf wiederum sehr melodramatische Weise selber umbringt: Er setzt sich auf einen kleinen Felsenvorsprung an der Küste, der der Apostelsitz genannt wird (und der zu dem Teil der lokalen Geografie gehört, den Hugo erfunden hat), und von dem er zu Beginn des Romans eben denselben Pfarrer vor dem Ertrinken gerettet hat. Denn während der Vorsprung bei Ebbe leicht zu erreichen und auch wieder zu verlassen ist, schneidet die Flut jeden Zu- oder Abgang ab. Gilliard – so endet der Roman – setzt sich nun selber dorthin, schaut noch dem Schiff nach, dass die Geliebte und deren Gatten aufs Festland bringt und bleibt beim Einsetzen der Flut ruhig sitzen, bis ihn diese völlig zugedeckt hat. (Womit Hugo der Unmöglichkeit des Krakens gleich zwei weitere Unmöglichkeiten hinzufügt: Der menschliche Körper, mit einem geringeren spezifischen Gewicht als Wasser, wäre beim Einsetzen der Flut automatisch angehoben worden, Gilliard hätte nicht ruhig sitzen bleiben können, sondern seine Beine wären nach oben geschwommen. Und kein Mensch, selbst wenn er Selbstmord begehen will, kann ruhig sitzen bleiben, wenn er keine Luft mehr bekommt. Der Körper will selbst dann noch am Leben bleiben, wenn es der Geist anders möchte, und setzt alles in Gang, dass das so bleibt.)

Man verzeiht Hugo, um der höheren Wahrheit der Schilderung der Entwicklung von Gilliards Willen diese Unmöglichkeiten, diese doch etwas melodramatische Story-Führung. Denn der Roman ist gut, sehr gut, und kann durchaus neben Les misérables gestellt werden. Schade, dass Die Arbeiter des Meeres (zumindest hierzulande) bedeutend weniger bekannt ist als Hugos Grossstadt-Roman. Vielleicht ändert ja die jetzt vorliegende Neuübersetzung von Rainer G. Schmidt, erschienen 2017 im mareverlag, Hamburg, etwas daran. Die Übersetzung ist vom feinsten. Verlag und Übersetzer haben zwei Essays von Victor Hugo hinzugefügt: Der Archipel der Kanalinseln, eine Frühform der ersten Roman-Kapitel, die zu einem selbständigen Werk angewachsen ist, und Das Meer und der Wind, ein meteorologischer Exkurs. Dazu kommen Anmerkungen, Nachwort und eine Editorische Notiz, die dem Leser einiges Interessantes zu sagen haben. Eine sorgfältige Edition, die auch sorgfältig aufgemacht daher kommt: 660+ Seiten, Leinen, Lesebändchen, angenehme Schrift, angenehmer Satzspiegel und angenehmes Papier. Alles in allem, wie man so schön sagt, eine echte Kauf- und Leseempfehlung.

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