J. G. Ballard: Kristallwelt

Dr. Sanders bekommt von der Kollegin einer Leprastation in Kamerun einen seltsamen Brief: Von Kristallen und einem Wald voller Edelsteine ist da die Rede. Der Arzt macht sich auf den Weg zu Suzanne, mit der ihn auch ein Verhältnis verbindet (und mit deren Mann er befreundet ist). Schon auf dem Weg dorthin begegnen ihm am Schiff einige seltsame Reisende, deren Ziel ebenfalls der Ort der Leprastation ist, man hört vage Vermutungen, Gerüchte.

Im Hafen angekommen, aber noch 60 Meilen vom Zielort entfernt, gestaltet sich die Situation zusehends dunkler, verworrener, das Militär bewacht das Gebiet, scheint Personen zu evakuieren und kontrolliert den Zugang. Sanders gelingt es dennoch, nach Mont Royal zu gelangen und wird dort Zeuge von pittoresken Veränderungen: Eine Art Kältewolke kristallisiert alle Materie, verwandelt sie in seltsame Gebilde, nur hochwertige Edelsteine können den Vorgang verzögern, hingegen nicht aufhalten. Die Ursache ist völlig unklar, man glaubt einen entfernten Spiralnebel dafür verantwortlich machen zu können, aber die Wissenschaft tappt weitghend im Dunklen (Kamerun ist nur einer von drei Orten auf der Erde, der davon betroffen ist, auch Gebiete in Russland und Florida sind den Kristallen ausgesetzt, deren Ausbreitung sich unaufhörlich fortsetzt.)

Aber es geht nicht nur Schrecken von dieser Kristallwelt aus, im Gegenteil: Sie übt auf viele (besonders körperlich kranke) Menschen eine starke Anziehungskraft aus, sie stellt etwas Reines, Klares dar, nach dem sich die Menschen sehnen und deren Faszination schließlich auch Dr. Sanders erliegt. In diese phantastische Handlung eingebettet sind Beziehungsgeschichten, Eifersuchtsdramen, Lebenskrisen. Sanders wird sich erst durch den Anblick des gläsernen Waldes seiner eigenen Motivation bezüglich seiner Tätigkeit als Lepraarzt bewusst, er vermag endlich ehrlich gegenüber sich selbst zu sein. Und während er sich nach seinem ersten Ausflug in diese wundersame Welt mit Hilfe eines edelsteinbesetzten Kreuzes noch zu retten vermag, gewinnt schließlich die Sehnsucht nach dieser perfekten Kristallwelt Oberhand: Am Ende sieht man ihn an Bord eines Bootes wieder den Strom aufwärts fahren, dorthin, wo auch seine ehemalige Geliebte (an Lepra erkrankt) bereits ihr ersehntes Ende gefunden hat.

Das Buch ist gut und spannend aufgebaut, die Idee bestechend, allerdings verlangt der Autor seinem Roman zu viel ab. Zu viel im Sinne von metaphorisch-philosophischer Unterfütterung, wodurch der Roman gegen Ende ins Esoterische, ein wenig Banale abgleitet. Die Gegenüberstellung von Dunkel und Hell, die Sehnsucht nach Reinheit (im Gegensatz zur leprösen Umgebung), die Auflösung von Verworfenheit in einem ewig kristallinen Zustand, in dem die Zeit ihre Gültigkeit verliert, das edelsteinbesetzte Kreuz aus der Kirche, das der Pater Sanders zur Lebensrettung überlässt und das ihn – es vor sich her tragend – vorerst zum Leben zurückführt: Dies alles ist so aufgeladen mit “tieferer” Bedeutung, dass dem Leser vor lauter tiefsinniger Interpretationsmöglichkeit schier der Kopf schwirrt. Hier hätte mehr Bescheidenheit notgetan, die aufdringliche Sinngebung jedenfalls war verzichtbar. Im übrigen ist der Hang zum Esoterischen in der SF-Literatur leider weit verbreitet, was sich auch aus ihrer Affinität zur Gegenkultur der 60er und 70er Jahre ergibt. Eine Dystopie angereichert mit fernöstlicher Weisheit, insgesamt aber ein kurzweiliges Buch.


J. G. Ballard: Kristallwelt. Hamburg, Düsseldorf: Marion von Schröder 1969.

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