Es muss Zeiten gegeben haben, in denen Robert Musil seinen Mann ohne Eigenschaften verflucht hat, in denen er vor allem den zweiten Teil davon verflucht hat, in denen er verflucht hat, dass er bereits eine erste Hälfte von Teil 2 veröffentlicht hat. In Band 5 der kritischen Musil-Werkausgabe, mehr noch als in Band 4 (der ebenfalls schon Musils Versuche, den Roman zu beenden, dokumentiert), finden wir weitere Texte und Notizen, wie Musil gedachte, zu einem Ende zu kommen.
Sein Problem mit dem Roman war sicher einerseits die Tatsache, dass die ursprüngliche Konzeption – nämlich dass Musil aufzeigen wollte, wie die Ereignisse der letzten paar Jahre vor dem ‚Grossen Krieg‘ sich jederzeit wiederholen könnten – dass diese Konzeption also spätestens 1933 überholt war, als es jedem Klarsichtigen bewusst wurde, dass sich die Ereignisse tatsächlich und sogar noch in einer schlimmeren Form wiederholen würden. Aber Band 5 dokumentiert auch, dass Musil zusätzlich vor ‚hausgemachten‘ Problemen stand, verschiedene angesprochene Themen oder Handlungselemente einer Fortsetzung oder eines Schlusses bedurften, die er nicht liefern konnte.
Zum Beispiel das inzestuöse Verhältnis zwischen Ulrich, dem Mann ohne Eigenschaften, und seiner Schwester Agathe. Wie sollte er aus dieser Nummer kommen? Die klassisch gewordene Leseausgabe des Mannes ohne Eigenschaften von Adolf Frisé lässt das ja offen. Musil hat tatsächlich keine Patent-Lösung gefunden. Obwohl Agathe wie Ulrich offenbar beide keineswegs unter Gewissensbissen leiden, stand eine solche Beziehung dem Fortgang der Handlung im Weg. Musil versuchte es mit einem Geständnis Agathes gegenüber Lindner – aber welche Konsequenzen sollte das nun wieder haben? Musil brach ab. Er versuchte es mit ganz normaler Eifersucht: Ulrich, aus welchen Gründen auch immer, schläft eines Tages mit Diotima. Aber das, und die nachfolgende Eifersucht Agathes wie die Trennung der beiden, wirkte unmotiviert. Musil brach ab.
Die Fälschung, mit der Agathe ihren ungeliebten Gatten Hagauer aus dem väterlichen Testament entfernte, harrte auch einer Auflösung. Immerhin wünschte Agathe die Scheidung, aber bei dem misstrauischen Charakter, den Musil ihrem Mann gegeben hatte, würde der nicht freiwillig einwilligen, sondern alle Register ziehen. Und als misstrauisch gegenüber der Tatsache, dass der ihm überaus wohlgesinnte Schwiegervater ihm nichts vermacht haben sollte, war er ja bereits geschildert worden. Hierzu finden wir in Musils Nachlass einen Besuch bei Ulrichs Anwalt. Aber der bringt, auf Grund des eigentümlichen Charakters nun, der Agathe verliehen worden war, ebenfalls nichts – eine Sackgasse, die Musil alsobald verliess.
Da war die eigentliche Parallelaktion, die in der ersten Hälfte von Teil 2 de facto liegen geblieben war. Der Versuch, sie mit einem weiteren Teilnehmer, einem Sozialisten namens Schmeißer(!), wiederzubeleben, befriedigte Musil offenbar nicht. Die einzige Figur aus der Parallelaktion, mit der Musil weiterarbeitet, ist, wie schon in Band 4, der General Stumm. Aber diese Figur alleine konnte die Parallelaktion natürlich nicht tragen. Eine Art Ende, in der sie in den Ersten Weltkrieg mündete, wurde zwar skizziert, aber dieses Ende wirkt seltsam leblos.
Clarisse ist eine weitere Figur, an der sich Musil abarbeitete. Sie sollte – wohl über ihrer obsessiven Beschäftigung mit dem Mörder Moosbacher – selber langsam in den Wahn abgleiten. Gleichzeitig sollte ihr Mann Walter immer mehr vom Künstler zum verbürgerlichten Kunstbeamten mutieren. Das gibt ein paar schöne Stellen. Aber mehr als eine Art nietzscheanisch-expressionistischer Variante eines Künstlerromans (bzw. eines seltsamen Beziehungsgeflechts in der Art der Wahlverwandtschaften) gab das nicht her. Das hätte allenfalls als selbständige Novelle getaugt, als tragende Konstruktion eines ganzen, riesigen Romans nicht; selbst als Hilfskonstruktion war sie offenbar zu schwach.
Moosbacher, in den publizierten Teilen des Mannes ohne Eigenschaften mehr eine gedankliche Spekulation der beiden Protagonisten Clarisse und Ulrich, wird ebenfalls weiter ausgeführt, als Person von Fleisch und Blut vorgestellt bei einem Besuch Clarisses in der Irrenanstalt, wo er zur Beobachtung steckt. Doch ein Mörder, der mit zwei Anstaltsärzten und dem Anstaltspfarrer Tarot spielt, ist auch nur eine weitere Sackgasse.
Vieles von dem, was Band 5 bringt, wurde auch in den Lösungsversuchen verwendet, die Band 4 schon präsentierte. Das gehört zu Musils Arbeitsweise. Er versuchte immer wieder, bereits vorhandene Schnipsel anders zu ordnen, in leicht geänderte Zusammenhänge zu stellen. Es war alles vergebens: Der Roman erwies sich als unformbar.
Wir können das heute anhand des 5. Bands der kritischen Werkausgabe problemlos verfolgen – eines, wie ich finde, ungeheuer spannenden Bands.
Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften . (= Gesamtausgabe Band 5. Herausgegeben von Walter Fanta). Salzburg und Wien: Jung und Jung, 2018.